Drama | Deutschland/Kosovo/Mazedonien/Frankreich 2015 | 104 Minuten

Regie: Visar Morina

Ein zehnjähriger Junge aus dem Kosovo folgt in den 1990er-Jahren den Spuren seines Vaters, der sich nach Deutschland absetzte, und macht sich, ganz auf sich allein gestellt, auf eine gefahrvolle Reise quer durch Europa. Das mit viel melancholischem Humor grundierte Drama dreht sich um einen Vater-Sohn-Konflikt, spart aber auch die Tristesse des historischen Zusammenhangs nicht aus. Der auf autobiografischen Erlebnissen beruhende Debütfilm handelt eindringlich von der Erfahrung, niemandem trauen zu können, hält aber zugleich tragikomisch-trotzig den Trost parat, sich nicht unterkriegen zu lassen. - Ab 12.
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Filmdaten

Originaltitel
BABAI
Produktionsland
Deutschland/Kosovo/Mazedonien/Frankreich
Produktionsjahr
2015
Produktionsfirma
Niko Film/Produksioni Krusha/Skopje Film Studio/Eaux Vives Prod.
Regie
Visar Morina
Buch
Visar Morina
Kamera
Matteo Cocco
Musik
Benedikt Schiefer
Schnitt
Stefan Stabenow
Darsteller
Val Maloku (Nori) · Astrit Kabashi (Gesim) · Adriana Matoshi (Valentina) · Enver Petrovci (Adem) · Xhevdet Jashari (Bedri)
Länge
104 Minuten
Kinostart
10.03.2016
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 12.
Genre
Drama
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Eindringlicher Debütfilm über einen Jungen aus dem Kosovo auf der Suche nach dem Vater in Deutschland

Diskussion
Zwischendurch wird es dunkel auf der Leinwand. Gerade noch kann man das wogende Meer erkennen. Am Horizont taucht ein Licht auf. Schemenhafte Gestalten auf dem kleinen, kaum hochseetauglichen Flüchtlingsboot blicken einem entgegen. Ein kleiner Junge wischt sich die Tränen von der Wange. Von irgendwoher nähern sich Motorengeräusche. Plötzlich wird es hell. Grelles Scheinwerferlicht. Eine Lautsprecherstimme brüllt von „italienischem Hoheitsgebiet“, befiehlt den Motor abzustellen. Der Schlepper zögert nur kurz. Dann schnappt er sich den Jungen neben ihm und wirft ihn ins Wasser. Eine Frau kreischt. Ein gezielter Schlag, und sie ist still. Mit gezückter Waffe zwingt der Schlepper einen Mann, dem Jungen hinterherzuspringen. Der Mann taucht wieder auf. Der Junge? Es war ein anderes Kind. Nicht Nori, der sich vorhin die Tränen weggerieben hatte. Der auf eigene Faust losgezogen war, um seinem Vater nach Deutschland zu folgen. Dem geliebten „Babai“, der sich ohne ein Wort aus dem Staub gemacht hatte, als Nori im Krankenhaus lag. Abgehauen aus dem Kosovo. In den 1990er-Jahren. Noch vor dem Krieg. Es war also eine andere Zeit, es waren andere Umstände, und doch könnte diese fürchterliche Szene aus dem Debütfilm von Visar Morina kaum aktueller sein. Neben Nori kauert eine Frau, Valentina, eine Bekannte seines Vaters. Mit ihrem Gürtel schnallt sie den Jungen an sich, dass er nicht als nächstes weggerissen, ins Meer geschmissen werden kann. Später, als sie glaubt, Nori sähe nicht hin, wird sie ihn heimlich wieder lösen. Viel später, Nori und Valentina sind inzwischen in Deutschland angekommen, stellt Nori sie zur Rede: Warum sie den Gürtel aufgemacht habe? Eine Antwort bekommt er nicht. So geht es im Grunde den ganzen Film über. Man kann niemandem trauen. Jeder enttäuscht jeden. Egal ob im Kosovo oder in Deutschland. Der Onkel, der Patriarch der kosovarischen Großfamilie, verprügelt seinen Sohn mit dem Gürtel, weil der die mühsam arrangierte Hochzeit in Frage stellt. Der Rest der Familie hockt mit gesenkten Köpfen am Abendtisch. Gezim, Noris Vater, möchte ohne seinen Sohn illegal nach Deutschland reisen. Der aber will ihn nicht gehen lassen, klammert sich an ihn, wirft sich vor den Bus. Als er aus dem Krankenhaus zurückkehrt, ist der Vater weg. Um Geld für seine eigene Flucht aufzutreiben, will Nori das Gewehr verkaufen, das die Familie wie ihren Augapfel hütet, weil es die letzte Illusion von Sicherheit ist, ihr einziger Schutz. Bei seinem Versuch kassiert Nori statt Geld jedoch nur Prügel. Das Gewehr ist trotzdem weg. Rücksicht nimmt auch Nori nicht. Er stiehlt das Hochzeitsgeld, das sein Onkel über Jahre hinweg zusammengespart hat. Als Valentina davon erfährt, schnappt sie es sich für ihre eigene Flucht. Nori aber lässt sich nicht abschütteln, schmuggelt sich in den Gepäckraum des Busses und heftet sich an ihre Fersen. Dann die brutalen, zynisch berechnenden Schlepper. Valentinas schmieriger Mann, der das Geld des Kindes einsackt. Der korrekte Portier vor der deutschen Flüchtlingsunterkunft, der Nori nicht zu seinem Vater lässt, solange der Junge nicht polizeilich registriert wurde. Die drohende Abschiebung. Es hört nie auf. Nicht einmal mit dem Ende des für den Deutschen Filmpreis vornominierten Dramas. Und dennoch, auch wenn einem „Babai“ kein klassisches Happy End gönnt, ein wenig Trost hält der Film doch parat. Zwar herrscht überall eine ähnliche Tristesse. Und das gelobte Deutschland, das Nori kennenlernt – eine schäbige Arbeitersiedlung, ein mit Stacheldraht umzäuntes Gelände, vollgepfropfte Zimmer – unterscheidet sich äußerlich kaum von seiner Heimat, wo er in staubigen Straßen Zigaretten verkaufte. Zweimal blickt er aus einem Fenster in einen Hof. Einmal im Krankenhaus im Kosovo, einmal im deutschen Flüchtlingsheim. Hier scharen sich streunende Hunde um einen Müllcontainer, dort verfrachten Polizisten einen Mann in einen Einsatzwagen. Visar Morina aber lässt sich davon so wenig unterkriegen wie sein junger Held Nori. Val Maloku verkörpert den Jungen erstaunlich souverän, kraftvoll und mit der schwermütigen Ausstrahlung eines alten, weisen Mannes. Den trotzigen Lebenswillen des Zehnjährigen unterstützt Morina, der einst selbst aus dem Kosovo nach Deutschland geflohen ist, mit viel melancholischem Humor. Wenn sich die Mitglieder der geplanten Hochzeitsgesellschaft im rituellen Begrüßungszeremoniell nach dem Wohlergehen jedes einzelnen Familienmitgliedes erkunden, ist das reine Komödie. Immer geht es allen gut, alles wunderbar. Das Elend kann noch so schrecklich sein. In Deutschland beginnen auch Noris Vater und Valentinas Mann Bedri ihr Gespräch auf diese Weise. Gut geht’s, gut geht’s. Gleich danach prügeln sie sich. Nori wusste es vorher schon: „Bedri ist ein Arschloch.“ „Alle sind Arschlöcher“, hält sein Vater entgegen. Astrit Kabashi spielt diesen Gezim einfach umwerfend gut: eine tragikomische Figur, einer der sich duckt, und wenn er mal aufbegehrt, den Kürzeren zieht. Seinen Sohn hat er angebrüllt, von sich gestoßen, als der ihn nicht wegfahren lassen wollte. Er macht seine Sache als Vater überhaupt nicht gut. Ein schlechter Mensch ist dieser seltsam liebenswerte Kauz trotzdem nicht. Man spürt, dass er seinen Sohn liebt, an seinen zärtlichen Worten und hilflosen Gesten. Dass er ihn alleine zurückließ, kann Nori ihm aber nicht verzeihen. Es ist dieser Vater-Sohn-Konflikt, um den sich in „Babai“ alles dreht. Der historische Kontext, die Flüchtlingsthematik, gibt nur „die Grundstimmung“ vor. Vielleicht gelingt es Morina gerade deshalb, eine politische Aussage zu treffen, weil es ihm nicht darum geht; ohne Klischees, ohne moralische Fronten. Es gibt aber wohl auch noch einen anderen Grund: Es gäbe fast keine Szenen in seinem Film, sagt der Regisseur, die er „nicht selbst oder aber im unmittelbaren Umfeld“ erlebt hat.
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