Unlängst befasste sich der Film „Selma“
(fd 42 914) mit dem Kampf der schwarzen Bevölkerung Amerikas um die Durchsetzung des allgemeinen Wahlrechts. Jetzt ist es „Suffragette“, der das Thema des Frauenwahlrechts in England aufgreift. Beide Filme beruhen auf historischen Ereignissen, beide siedeln ihre Handlung vorwiegend unter der arbeitenden Bevölkerung an und beide sind von Frauen gemacht. „Selma“ ist deutlicher in ideologischer Auseinandersetzung begründet; aber auch „Suffragette“ bemüht sich um genügend gesellschaftlichen Hintergrund, der die erzählte Story hinreichend unterfüttert.
Gemeinsam ist beiden Filmen, dass sie Entwicklungen beschreiben, die mit dem Schluss des Films nicht zu Ende sind. Das sichert den Filmen erhöhte Aufmerksamkeit und setzt in den Köpfen der Zuschauer Parallelen zu gegenwärtigen Befindlichkeiten frei, die bei „Suffragette“ zwar weniger mit dem Frauenwahlrecht im engeren Sinne, wohl aber mit der Stellung der Frau im heutigen öffentlichen Leben zu tun haben.
Historische Gestalten wie Martin Luther King in „Selma“ und die Frauenrechtsaktivistin Emmeline Pankhurst in „Suffragette“ spielen darin zwar eine wichtige Rolle, doch die Handlung wird von gewöhnlichen Menschen getragen, in diesem Fall von der Wäscherin Maud, die eher zufällig mit der Suffragette-Bewegung in Berührung kommt. Ihr weiteres Leben wird dadurch aufgewühlt und verändert. Die Story spielt im Jahr 1912, also 16 Jahre, bevor das Frauenwahlrecht in England uneingeschränkt Realität wurde, aber zu einem Zeitpunkt, als Demonstrationen an der Tagesordnung waren und im Parlament schon Anhörungen zu dem Thema stattfanden.
Maud arbeitet für geringen Lohn in einer industriell betriebenen Großwäscherei, unter unwürdigen Bedingungen und den Launen ihrer männlichen Vorgesetzten ausgeliefert. Tagtäglich bekommt sie am eigenen Leib die Unterwerfung zu spüren, die Frauen damals überall abverlangt wurde, bei der Arbeit, zu Hause und im gesellschaftlichen Leben. Politisches Engagement ist Maud zunächst noch fremd, aber ihre Bekanntschaft mit einer Arbeitskollegin und mit einer der Bewegung nahestehenden Apothekerin baut ihre inneren Barrieren ab. Es bedarf kaum noch der Aufmunterung durch Mrs. Pankhurst, der geistigen Anführerin der Frauen, um Maud an den Protestaktionen teilnehmen zu lassen, die gelegentlich auch in gewalttätigen Vandalismus ausarten.
Die filmische Nacherzählung der Ereignisse, festgemacht an einer genreüblichen fiktiven Figur, hätte leicht in ein revolutionäres Melodram ausarten können (und tut es in einigen Szenen auch). Was den Film davor bewahrt, ist vor allem die vielleicht durch das geringe Budget aufgezwungene, vielleicht aber auch bewusste Entscheidung der Regisseurin Sarah Gavron, den gesamten Film mit Handkameras aufnehmen zu lassen. Die von ähnlichen Filmen gewohnten Massenszenen werden durch deren gekonnten Einsatz immer sogleich ins Individuelle zurückgeführt. Dadurch gelingt es Gavron, die notwendigen Dramatisierungen mehr als Kulisse denn als Kernstück der Handlung zu benutzen und den Sinn des Publikums für die ungerechten Konsequenzen zu schärfen, die jede der Frauen zu ertragen hat.
„Suffragette“ entgeht damit auch der naheliegenden Gefahr, zum Pamphlet zu werden. Die Protestszenen und Polizeiaktionen nehmen mehr das Aussehen einer expressionistischen Collage an, in der sich die Kamera sogleich wieder auf die Gesichter der Frauen konzentriert und die Auswirkungen der ihnen auferlegten Restriktionen umso deutlicher spürbar werden. Gute schauspielerische Leistungen, unter anderem von Carey Mulligan, Helena Bonham Carter oder Meryl Streep, sind dabei hilfreich. Wenn es Gavrons Absicht war, den historischen Augenblick einzufangen, an dem die unterdrückten Frauen vom friedlichen Protest zum militanten Aktivismus übergingen, dann ist ihr das bemerkenswert gut gelungen.