Ein unscheinbarer Mann mittleren Alters sitzt in seinem Zimmer vor einer Staffelei. Der Raum scheint Wohnung und Arbeitsstätte in einem zu sein. Man sieht ihn nur von hinten, doch sein Gesicht ist zweifach erkennbar: in einem Spiegel und auf dem fast fertigen Selbstporträt. Mit dieser Szene beginnt „Bridge of Spies“, womit Steven Spielberg sogleich deutlich macht, dass Protagonist wie Story verschiedene Dimensionen besitzen, deren Dechiffrierung Anspruch und Reiz des Films ausmachen.
Historische Stoffe, besonders über umstrittene Personen und Ereignisse, bedürfen einer mehrdimensionalen Darstellung, wenn sie den Geist und die Bedeutung, die ihnen innewohnen, Angehörigen späterer Generationen vermitteln wollen. Die Parteinahme für eine historische Idee oder Gestalt ist einfach; sie aus der Zeit und ihrer gesellschaftlichen Situation begreifbar und nacherlebbar zu machen, ist hingegen die eigentliche und schwierigste Aufgabe jedes Autors und Filmemachers.
Spielberg hat sich daran schon mehrmals versucht – und bewährt. „Amistad“
(fd 33 014), „München“
(fd 37 431), „Schindlers Liste“
(fd 30 663), „Der Soldat James Ryan“
(fd 33 341) und vor allem „Lincoln“
(fd 41 506) kommen ins Gedächtnis. „Bridge of Spies“ ist eine logische Fortsetzung dieser Filme. Sie alle mögen durchaus publikumsfreundliche Genre-Filme sein, doch in der Detailliertheit ihrer Perspektive behalten sie den historischen Kern ihrer Geschichten stets im Auge, auch wenn sie sich künstlerische Freiheiten nehmen und dem Kino geben, was des Kinos ist.
Der Protagonist, den man zu Beginn von „Bridge of Spies“ in seinem Zimmer sitzen sieht, heißt Rudolf Abel und entpuppt sich als russischer Spion, dem das FBI 1957 in New York auf die Spur kommt. Jim Donovan, ein Versicherungsanwalt mit begrenzter Erfahrung in Strafsachen, wird mit Abels Verteidigung beauftragt. Die Prinzipien der amerikanischen Verfassung verlangen, dass Abels Rechte im Prozess vertreten werden, auch wenn zum Höhepunkt des Kalten Krieges am Ausgang des Verfahrens kein Zweifel besteht. Donovan scheint den Behörden genau der Richtige zu sein, da von ihm kein großer Widerstand zu erwarten ist. Doch der aufrechte Bürger und Familienvater, der seinen Beruf ernst nimmt, lässt sich nicht ohne Weiteres vor den Karren einer voreingenommenen Gerichtsbarkeit spannen. Er erkennt in Abel zwar einen Spion, den es zu bestrafen gilt, doch hat sich dieser nicht unehrenhafter verhalten als amerikanische Spione auf russischem Terrain. Da sich Abel vielleicht einmal als nützlich erweisen könnte, um einen der eigenen Spione von den Sowjets frei zu handeln, rettet er ihm sogar das Leben.
Spielberg hat diese erste Stunde mit einer Subtilität inszeniert, die heute nur noch selten zu finden ist. Seine Vorbilder sind unschwer zu erkennen, aber er hat sie seinem persönlichen Stil so kunstvoll integriert, dass daraus einige der bewegendsten und fesselndsten Filmszenen der jüngsten Zeit hervorgegangen sind. Es ist das Bekenntnis eines großen amerikanischen Regisseurs zu der Erzählkunst der „klassischen“ Filmemacher in unverkennbarem Gegensatz zur effektbesessenen Vordergründigkeit heutiger Blockbuster. Spielberg erzählt mit der Kamera, mit Licht und Schatten, mit regennassen Straßen und bürgerlichen Interieurs. Es dauert für heutige Verhältnisse endlos lange, bis der erste Dialog zu hören ist; doch bis dahin hat man alles Wesentliche über Rudolf Abel aus dem Bild erfahren.
Von den Meistern der 1930er- und 1940er-Jahre hat Spielberg auch gelernt, dass nichts im Kino spannender sein kann als die Gegenüberstellung zweier leiser und behutsamer Kontrahenten, die verschiedenartige Welten repräsentieren, sich trotz aller ideologischen Unterschiedlichkeit aber verstehen und mit gegenseitiger Achtung begegnen. In einer Zeit, in der manchem Idealisten die Fenster eingeworfen wurden und Schulkinder lernten, im Falle eines Atombombenangriffs unter Tische und Stühle zu kriechen, lässt sich Humanität fraglos schwerer entdecken und praktizieren als im friedlich-geregelten Alltag. Doch Spielberg spürt ihr immer wieder nach, vor allem in der Figur des Anwalts, dessen bescheidenes, als naiv verkanntes Verhalten nicht zufällig an die meist von James Stewart gespielten Helden von Frank Capra erinnert. Diese erste Filmstunde ruft überdies am stärksten Parallelen zwischen der Zeit des Kalten Krieges und den Jahren nach 9/11 wach. Beide Epochen haben in der amerikanischen Bevölkerung die unpopuläre Frage aufkommen lassen, ob wir uns nicht zu viel um unsere Sicherheit sorgen und zu wenig um Freiheit und Menschenrechte. Spielberg hat sich in vielen seiner Filme mit dieser Frage beschäftigt. Hier steht sie unverkennbar im Mittelpunkt.
Mit dem Ausgang des Gerichtsverfahrens gegen Abel könnte der Film enden – und er wäre ein Meisterwerk. Doch Abels Story ist damit nicht zu Ende, und Spielberg erst recht nicht. Der zweite Teil von „Bridge of Spies“ findet seine Rechtfertigung in seiner historischen Wahrhaftigkeit, nicht in seiner filmischen Notwendigkeit. Denn nun ist die von Donovan vorausgeahnte Situation eingetreten, dass ein amerikanischer Pilot, dessen Spionageflugzeug über russischem Gebiet abgeschossen wurde, aus den Händen der Sowjets befreit werden muss. Man entscheidet sich für einen Gefangenenaustausch – und für Jim Donovan als Unterhändler. Der Austausch soll in Berlin stattfinden, wo gerade die Mauer gebaut wird. Auch hier erweist sich der stille, wohlerzogene Donovan als moralische Autorität und als hartnäckiges Hindernis für seine allen politischen Risiken aus dem Weg gehenden Auftraggeber. So lässt er sich partout nicht davon abbringen, auch noch einen durch eigene Unvorsichtigkeit hinter Gitter geratenen Studenten in den Handel miteinzubeziehen.
Rudolf Abel taucht erst im Moment des Austausches auf der Glienicker Brücke wieder auf, und auch der Film findet sein Gleichgewicht erst in dieser gespenstischen Szene wieder. Man vermisst Abel allerdings, da seine Abwesenheit die Ambivalenz der Charaktere aus dem politischen und menschlichen Spiel entfernt – und weil der außerhalb Englands kaum bekannte Mark Rylance ein so verblüffend guter Darsteller ist. Ohne dessen Gegenwart kämpft sich Tom Hanks mit einer höchst überflüssigen, wohl auflockernd gemeinten Erkältung durch überhand nehmende Dialogszenen, die aus einem Coen-Film stammen könnten; was nicht von ungefähr kommt, da die Coens für die letzte Überarbeitung des Originaldrehbuchs verantwortlich zeichnen. Der Stil des Films kippt in eine Spionage-Story à la John Le Carré um, mit gelegentlichen Anspielungen auf die Angst der Amerikaner im Gefolge von 9/11.
„Ein Frost hat sich eingeschlichen zwischen dem heutigen Russland und den Vereinigten Staaten“, hat Spielberg in einem Interview bekundet. „Es ist eine Art von Frost, mit der ich gut bekannt bin, weil ich mit dem Permafrost des Kalten Krieges aufgewachsen bin.“ Spielberg ist Amerikaner und macht Filme für Amerikaner aus amerikanischer Sicht. Man kann ihm nicht verargen, dass er sich in Berlin nicht so zu Hause fühlt wie in Amerika. Er tut sein Bestes, das Berlin zur Zeit des Mauerbaus und Donovans Gegenspieler aus dem Osten so unvoreingenommen wie möglich zu charakterisieren. Glücklicherweise unterliegt er nicht den albernen Klischees anderer Filme über den Kalten Krieg. Aber während in New York alles authentisch und ungekünstelt aussieht, wirken die Szenen in Deutschland inszeniert. Erst auf der Glienicker Brücke findet Spielberg wieder zu sich und zur Faszinationskraft des Anfangs zurück. Die Atmosphäre des Unwirklichen und Unheimlichen, die er hinter dem realen Geschehen aufscheinen lässt, zeigt ihn auf der Höhe seiner Kunst, und entlässt den Zuschauer mit der Überzeugung, einen trotz seiner Uneinheitlichkeit bedeutenden Film gesehen zu haben.