Als er seine Landsleute am Boden liegen sieht, niedergestreckt von halbstarken Rassisten, da greift auch Ayiva zum Holzknüppel. Der sonst so vernünftige und disziplinierte Asylsuchende aus Burkina Faso schlägt plötzlich Autoscheiben ein, setzt Barrikaden in Brand, lässt sich von der zerstörerischen Stimmung der Nacht anstecken.
Diese Explosion der Gewalt hat es wirklich gegeben: Am 7. Januar 2010 schossen in der süditalienischen Kleinstadt Rosarno Jugendliche, darunter der Sohn eines N’drangheta-Bosses, mit einem Luftgewehr auf afrikanische Saisonarbeiter, woraufhin es zu schweren Unruhen zwischen Einheimischen und Migranten kam. Der Italo-Amerikaner Jonas Carpignano erzählt nun die Vorgeschichte zu jener nicht nur für Italien, sondern angesichts einer verfehlten Flüchtlingspolitik für die ganze EU so beschämenden Nacht.
Das Geschehen um Ayiva und seine Freunde Abas und Mades ist fiktiv, aber deshalb nicht weniger wahr: „Mediterranea“ zeigt mit semi-dokumentarischem Blick die lebensgefährliche Flucht übers Mittelmeer, die Schwarzarbeit auf den italienischen Orangenfeldern – von ihrem geringen Verdienst müssen die Migranten auch noch ein „Schutzgeld“ an die örtliche N’drangheta zahlen – und das Leben in der heruntergekommenen Fabrikruine vor den Toren des Städtchens. Dass die Zustände für Menschen ohne Aussicht auf Asyl so sind, wie Carpignano sie beschreibt, weiß man längst schon aus den Nachrichten: Elend und schmerzhaft perspektivlos.
Diese Migranten sind Sklaven und Rechtlose, das stellt der Film luzide heraus, ohne es verbal formulieren zu müssen. Die Erzählung, die Bilder genügen völlig. Ein grausames Geschäft mit deren Verzweiflung wird dies- wie jenseits des Mittelmeers gemacht: Der skrupellosen N’drangheta in Italien entsprechen auf afrikanischer Seite brutale Beduinen, die Ayivas Flüchtlingstreck in der algerischen Wüste überfallen. Mit der Handkamera bleibt der Regisseur so nahe bei den Protagonisten, wie man nur sein kann – was den Überblick und damit den Einstieg ins Geschehen zunächst etwas erschwert, zumal die Inszenierung zu Beginn präziser sein könnte. Ist diese Hürde aber genommen, erweist sich die Unmittelbarkeit als großer Pluspunkt des Films, der die Geschehnisse auch für den Zuschauer so beklemmend macht. Die Angst und Ohnmacht der völlig der Willkür der Anderen und der Kälte des kapitalistischen Systems ausgelieferten Afrikaner sind förmlich mit Händen zu greifen – etwa wenn sie von einem passierenden Wagen mehrmals fast gerammt werden, mit voller Absicht; oder wenn ein fröhliches kleines Fest der Migranten jäh und fast wortlos beendet wird durch das Auftauchen von zwei örtlichen Halbstarken – stumm verschwinden zwei schwarze Frauen mit ihnen im Nebenraum, um sich dort zu prostituieren: oder wenn einer der Migranten bei der Arbeit unter einem Stapel Obstkisten begraben wird: Der Padrone befiehlt, zunächst die Maschinen abzustellen, bevor man den Verschütteten birgt.
Es ist eine trostlose Welt, und doch gelingt es Carpignano, seinen Film nicht in düsterem Elend versinken zu lassen, Momente von Freundschaft, Hoffnung, Großzügigkeit oder schlicht einem pragmatisch-freundlichen Miteinander auf Augenhöhe zu kreieren. Das ist, neben der Nähe zu seinen von Laien beeindruckend gespielten Protagonisten, die große Stärke von „Mediterranea“: die differenzierte Darstellung beider Seiten, die aber auch nicht volksschulhaft auszirkuliert daherkommt. So gehören zu den auftretenden Italienern bei weitem nicht nur Freier und Rassisten. Da ist etwa der Junge Pio, der selbstbewusste, aber auch faire Schwarzmarktgeschäfte mit den Flüchtlingen betreibt; der Obstplantagenbesitzer, der zumindest in der Theorie Empathie für die Nöte des Flüchtlingsdaseins aufbringt; seine Familie, die angesichts des aus den Nachrichten in ihr Städtchen geschwappten Elends den hilflosen Satz „Tun wir so, als ob nichts wäre“ zu ihrem Mantra erhoben hat. Und es gibt sogar wirkliche Hoffnungsträger wie eine engagierte Sozialhelferin sowie die ältere, von allen „Mama Africa“ genannte Dame, die die Flüchtlinge mit Essen und Gesang versorgt.
Zudem strukturiert der Film ebenso souverän wie beiläufig Schlüsselmomente durch prägnante Musik- und Tanzszenen: Der fröhliche Abend in der Flüchtlingsbaracke, der über Skype vorgeführte Tanz von Ayivas Tochter in der Heimat, das Fest der Tochter des Padrone, bei dem Ayiva auf zwei der Anführer des Flüchtlings-Pogroms trifft. Woraus keine Katharsis, ja, nicht einmal eine Konfrontation erwächst: Ungerechtigkeiten und Widersprüche wie diese lässt Carpignano stehen, werden nicht aufgelöst. Denn dies HIER ist die Realität, kein Heldenstück.