Verschämt räumt Margherita die Aluminiumboxen mit dem in einem Imbiss erstandenen Abendessen in ihre Tasche zurück. Soeben ist ihr Bruder Giovanni am Bett der todkranken Mutter aufgetaucht, mit einem liebevoll selbst zubereiteten Menü für die alte Dame. Was für eine traurig anrührende Beobachtung und welch gelungenes Sinnbild für Margheritas ständiges Gefühl, nicht zu genügen.
„Mia Madre“ ist ein Film über das Leben, den Tod, die Familie und das Kino, und es ist ein Film darüber, wie man all dies zusammenzubringt beziehungsweise auch über die Unmöglichkeit, allem gerecht zu werden. Margherita ist eine Regisseurin, deren Teenager-Tochter Livia sich zunehmend von ihr zu entfremden scheint; sie selbst steckt nach der Trennung von ihrem Lebensgefährten mitten in anstrengenden Dreharbeiten, während ihre Mutter Ada im Sterben liegt. Margherita ist zweifelsohne das Alter Ego von Regisseur Nanni Moretti, der in seinem bislang wohl persönlichsten Film den Musterbruder Giovanni spielt. Denn als Moretti 2011 „Habemus Papam“
(fd 40 792) realisierte, starb seine eigene Mutter, die wie die Mutter in „Mia Madre“ als Lehrerin arbeitete.
Doch der Film verharrt nicht in einer persönlichen Aufarbeitung, sondern weitet sich zur Reflexion über Realität und Fiktion, zur Meditation über Liebe und Trauer. Im typischen Moretti-Stil erzählt er dies in einer gut ausbalancierten Mischung aus schwer und leicht, dramatisch und komödiantisch. Den eher bedrückenden Szenen im Krankenhaus stehen kuriose Momente entgegen, in denen John Turturro als eitler US-amerikanischer Filmstar Margheritas Dreharbeiten in eine Farce verwandelt. Nicht zuletzt durch Turturros überdrehtes Spiel entstehen hier Sequenzen von großer Komik.
Doch die Dreharbeiten zu Margheritas sozialkritischem Film dienen keineswegs nur als vergnüglicher Gegenpol: Von Moretti sorgfältig in Szene gesetzt, skizzieren die Momente am Set den Charakter der Hauptfigur; sie zeichnen Margheritas manchmal brüske, ungerechte Art nach, zeigen aber auch ihre freundliche, liebevolle Seite, ihre Selbstzweifel, Unsicherheiten und ihre Überforderung angesichts ihrer beruflichen wie privaten Situation, ihre emotionale Unbehaustheit. Moretti erzählt diesen mentalen Zustand in einer stimmigen Mischung aus realen Szenen, Träumen, Gedanken und Erinnerungen; was davon was ist, lässt sich auf den ersten Blick oft nicht sofort erkennen.
So stellt der Film nicht nur auf der Ebene des Plots, sondern auch formal immer wieder die Frage nach der Realität, was diese ausmacht, in welchem Maße sie eine Frage der Perspektive und der eigenen Offenheit ist. Die Statisten seien ihr viel zu wenig „echt“, viel zu manikürt, gezupft und geschminkt, bemängelt Margherita einmal. So sähen die Leute heute nun mal aus, entgegnet ihr Assistent, und er hat wohl Recht.
Margherita wird von Margherita Buy gespielt, ohne die im letzten Jahrzehnt kaum einer der größeren italienischen Filme auszukommen schien – doch man versteht hier auch wieder, warum. Das Barsche und das Warmherzige vermag Margherita Buy auf eine sehr nahbare, verletzliche Weise zu verkörpern. Auch Giulia Lazzarini ist in der Rolle der sterbenden Mutter auf anrührende Weise ganz bei ihrer Figur. Einzig Giovanni bleibt etwas eindimensional, wirkt in seiner völligen Hingabe an die Pflege der Mutter (wofür er auch seinen Job kündigt) wie ein etwas lebensferner Wunschtraum – vielleicht eine trauernde Sehnsucht Morettis, beim Sterben seiner eigenen Mutter auf diese Weise anwesend gewesen zu sein. Auch das Ende des Films, wenn ehemalige Schüler die Wohnung der toten Ada aufsuchen und von ihrer großen Liebe zu der Lehrerin berichten, wirkt ein wenig pathetisch, was den Film an dieser Stelle auf eine vielleicht allzu persönliche Hommage einengt.
Doch sind dies kleine Einwände angesichts eines so warmherzig-menschlichen, ebenso reichen wie reifen Films, von dessen vielen schönen, schweren wie leichten Szenen eine beschwingte Sequenz besonders im Gedächtnis bleibt: Wenn Margheritas Tochter Livia endlich ihr Motorino bekommt und damit erste Fahrversuche unternimmt, in eleganten Kurven um Margherita und ihren Ex-Mann fährt, während die Eltern lachend vor und zurück und zur Seite springen, dann ist das wie ein Tanz inszeniert, ein Tanz des Lebens.