Unmerklich beginnen sich die tiefgrünen Blätter in Dheepans Träumen zu bewegen, bis sich die weiß depigmentierte Stirn eines Elefanten aus dem Dschungelbild herausschält. Aufmerksam guckt er mit seinen kleinen Augen in die Kamera, gutmütig abwartend, alles registrierend. Vergessen wird das Tier nichts. Der tamilische Freiheitskämpfer Dheepan, so enthüllt es der kraftvolle Einwanderungsthriller von Jacques Audiard, ist dieser Elefant. Auch wenn er sonst kaum noch an den erinnert, der er einst in Sri Lanka war und nun in Frankreich zu sein vorgibt. Denn der wirkliche Dheepan und seine Familie sind vor einem halben Jahr Opfer des Bürgerkriegs geworden. Die drei völlig fremden Menschen, die zu Beginn des Films die Pässe Verstorbener in einem Flüchtlingslager an sich nehmen, bilden eine aus der Not geborene Patchwork-Familie: ein Mädchen, das seine Eltern verlor, eine junge Frau, die jetzt Yalini heißt und zu ihrer Cousine nach England will, und der ehemalige Kämpfer.
Kurze Zeit später schält sich Dheepan, flankiert von anderen Straßenverkäufern, aus der Dunkelheit der Pariser Straßen heraus. Erst unscharf, dann hell erleuchtet von den billigen LED-Hörnchen auf dem Kopf, die er verschachern will. Immer auf der Hut vor der Polizei – bis ihm der Dolmetscher bei der Einwanderungsbehörde steckt, was man erzählen muss, um bleiben zu können. In einer Banlieue im Vorstadt-Nirgendwo wird Dheepan zum Hausmeister der Plattenbauten, die die Landschaft bestimmen. Yalini heuert als Haushaltshilfe beim kranken Vater eines Gangsters an, der die Platte beherrscht. Und das Mädchen muss Französisch lernen, um das Bleiberecht zu gewährleisten: Assimilation oder Untergang. Tagsüber herrscht Trostlosigkeit, nachts dröhnt das Party-Gewummer. Drogen bestimmen das Wohnumfeld all jener, die vom Wohn- und Arbeitsmarkt an den Rand gedrängt wurden: sozial schlecht gestellte Franzosen und eben „diese Einwanderer“. Dheepan muss sich einen neuen Dschungel erschließen, auch wenn dieser aus Beton besteht und sich auch so anfühlt.
Wie alle Filme von Jacques Audiard erzählt auch „Dämonen und Wunder“ davon, wie sich Menschen mit aussichtslosen Zwangslagen arrangieren, wie Frust in Angst und Gewalt umschlägt. In der dunklen Wohnung, in der sich die Zufallsfamilie arrangieren soll, erhöht Audiard den Druck des Außen, einer Betonwüste, in der Menschen zusammengepfercht und sich selbst überlassen werden, in der es kaum Zerstreuung gibt, dafür aber Gewalt von allen Seiten. Die Poesie intimer Momente und brutale Realitätseinbrüche wechseln sich in einer Erzählung ab, die Märchen und Kommentar zur aktuellen Flüchtlingskrise zugleich ist. Ghettoisierung kennt nur eine Richtung. Und als Wegducken keine Option mehr ist, errichtet Dheepan, dessen Darsteller Antonythasan selbst als Kindersoldat von den Tamil Tigers eingezogen wurde, dieselbe „No Fire Zone!“, die auch die Regierung seiner Heimat einst errichtete, um die Tamilen dann doch zu beschießen. Der Waffenstillstand zwischen dem Hausmeister, der kein Krieger mehr sein will, und den Gangstern, die keinen Frieden wollen, kann auch in Frankreich nur ein brüchiger sein.
Diese Konstellation hat etwas von einer Fabel, die man Audiard ebenso abnimmt wie den hellsehenden Gefängnismörder in „Ein Prophet“
(fd 39 774) oder die Liebe der Killerwal-Dompteurin zum alleinerziehenden Vater, der sich mit bloßen Händen durch den „Geschmack von Rost und Knochen“
(fd 41 473) boxt. Audiard besitzt ein großartiges Gespür für Figuren, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Auch in „Dheepan“ erzählt er eine Geschichte, die in der Anonymität untergehen würde, weil man zwar weiß, woher und warum diese Menschen kommen, aber nicht, was für eine trügerische Sicherheit sie sich hierbei einhandeln.
Den „Melting Pot“ der Gefühle und Kulturen vereint dabei auch die Tonspur, auf der indische Klänge neben Vivaldi und Nicolas Jaars elektrisierenden Kompositionen sowie harten Rap-Klängen stehen. „Dämonen und Wunder“ vermittelt ein intensives Filmerleben in großartigen Bildern, die auch Gewalt in ihrer ganzen unästhetisierten Härte auszustellen bereit sind. Denn Dheepan mag wie der alte Elefant sein, still, geduldig und abwartend. Doch wenn ihn die Vergangenheit einholt, dann gibt er sich zu erkennen und kämpft – bis aufs Blut.