Einem Schlafwandler gleich wandert Arash nachts durch die Straßen einer Großstadt. Tod und Einsamkeit liegen in der Luft. Arash ist ein schweigsamer junger Mann mit James-Dean-Tolle, Lederjacke und wissendem Blick, mit dem er auf die Welt schaut. Die Mutter lebt nicht mehr, sein Vater ist ein Heroin-Junkie, Drogenhändler treiben die väterlichen Schulden längst ohne Geduld bei all jenen ein, bei denen noch etwas zu holen ist. So verliert der Sohn auch jenen Thunderbird, für den er „2191 Tage“ gespart hatte. Neben Arash begleitet der Film auch andere Stadtbewohner auf ihren Wegen, vor allem des Nachts: einsame Frauen und Mädchen, Prostituierte, arme Arbeiter, Taschendiebe, Junkies und ihre Dealer, wie den lokalen Mafia-Boss Saeed, der die Schulden von Arashs Vater eingetrieben hatte. Saeed trifft eine junge Frau und nimmt sie mit zu sich nach Hause. Sie ist ruhig, hat ein eher ausdrucksloses Gesicht, scheint aber durchaus zugänglich – bevor sie ein scharfes Gebiss mit großen Fangzähnen ausfährt und alles Blut aus Saeeds Adern saugt. Kurz darauf kommt Arash am selben Ort an, eigentlich weil er sein Auto zurückholen will. Er findet die Leiche und neben ihr einen großen Koffer voller Drogen. Und so entspinnt sich zwischen zwei gequälten Seelen eine Romanze.
Ein iranisch-amerikanischer, feministischer Vampirfilm, in „stylishen“ Bildern voller Romantik, angereichert mit den Insignien des klassischen Gangsterkinos und Western-Elementen, beeinflusst vom Retro-Stil des Indie-Kinos: Man tut Ana Lily Amirpours erstaunlichem Regiedebüt kein Unrecht an, wenn man den Film als Genre-Mix und bilderstrotzende postmoderne Zitatmaschine begreift. Zugleich wirkt er keineswegs barock überladen, vielmehr in vieler Hinsicht sparsam und asketisch. Oft erzählt Amirpour mit Zeitlupe und ohne Dialoge, und weil die Bilder schwarz-weiß sind, fühlt man sich zusätzlich an die Ästhetik des frühen Kinos erinnert; wobei der elegant-gesättigte, ölig-glänzende Look tatsächlich mehr mit Rodriguezʼ„Sin City“
(fd 37 169) und Marjane Satrapis „Persepolis“
(fd 38 452) gemein hat als mit dem Expressionismus des Stummfilms.
So wie Fantastik und Wirklichkeit, Popkultur und klassisches Kino, so treffen auch Gegenwart und Vergangenheit in origineller Weise aufeinander: 1950er- und 1980er-Jahre mischen sich, Musikclip-Ästhetik mit Breitwand-Bildern und die Erzählweise eines Spaghetti-Western mit lakonischen Retro-Noirs von Jarmusch, Kaurismäki und Tarantino. Eine Mischung aus Realität und Metapher – das gilt auch für den Schauplatz. Er heißt „Bad City“, und es könnte sich um Gotham City ebenso handeln wie um Teheran. Um den Stadtrand herum stehen unentwegt pumpende Ölbohrtürme. Dort liegt auch ein offenes Massengrab. Es ist also ein Vampirfilm, zugleich aber das Gegenteil aller „Twilight“-Pubertätsblütenträume. Die Vampirin, die nur „The Girl“ genannt wird, bleibt bis zum Ende in ihrem Charakter ambivalent: ein Hipster mit exquisitem Musikgeschmack, im Tschador, aber darunter mit quergestreiftem Pulli – ähnlich dem, den Jean Seberg in „Außer Atem“ (fd 9287) trug. Sexuell verführerisch ist sie für Arash ohne Frage, eine Befreierin, keine Femme Fatale, die den Held in Verhängnisse verstrickt. Zugleich für andere mörderische Todesbotin. Und dann wieder auf dem Skateboard ausgelassen durch die Nacht fahrend. Da die Regisseurin, eine in London geborene Exil-Iranerin, offensichtlich weiß, was sie tut, darf man in dieser zweiten Hauptfigur die unvereinbaren Rollen aller nicht nur iranischen Frauen erkennen, die man auch politisch ernst nehmen sollte: Kälte wie Wärme, der Wunsch nach Autonomie und sexueller Freiheit wie der nach sozialer Geborgenheit. Dies ist ein Stück sehr besonderes, unbedingt sehenswertes Kino, ein allen Zitaten zum Trotz überaus origineller, einfallsreicher Film. Dieser Einfallsreichtum liegt in der Kombination der verschiedenen Elemente und in einem Formalismus, der nicht das Gegenteil von Tiefe ist, sondern deren Voraussetzung.