Filmisches Porträt der österreichischen Schriftstellerin Ilse Aichinger (geb. 1921), das von ihrer Kurzgeschichte „Wo ich wohne“ ausgeht, um unterschiedliche Realitäts- und Erzählebenen, Bilder, Texte und Stimmen zu einer werk-, familien- und zeitgeschichtlichen Collage zu verbinden. Dabei wechseln fiktive Szenen mit dokumentarischen Bildern, darunter auch erstmals zu sehende Super-8-Aufnahmen, die die Autorin in den 1960er- und 1970er-Jahren selbst drehte. Ganz entscheidend lebt der Film vom Wechselverhältnis zwischen Innen und Außen, den Begrenzungen der Wohnung und dem Umherschweifen im Wiener Stadtraum, der auch ein Erinnerungsraum ist.
- Ab 14.
Wo ich wohne. Ein Film für Ilse Aichinger
Dokumentarfilm | Österreich 2014 | 81 Minuten
Regie: Christine Nagel
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Filmdaten
- Originaltitel
- WO ICH WOHNE. EIN FILM FÜR ILSE AICHINGER
- Produktionsland
- Österreich
- Produktionsjahr
- 2014
- Produktionsfirma
- Kurt Mayer Film
- Regie
- Christine Nagel
- Buch
- Christine Nagel
- Kamera
- Isabelle Casez · Helmut Wimmer
- Musik
- Gerd Bessler
- Schnitt
- Niki Mossböck
- Länge
- 81 Minuten
- Kinostart
- 04.12.2014
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 14.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Diskussion
„Wo ich wohne“ beginnt unten und innen. Aus einem Souterrain-Fenster heraus sind die Beine von Passanten zu sehen, eine Welt aus der Untersicht, fragmentiert wie der Film selbst. „Ich will es nicht laut sagen, aber ich wohne tiefer“, heißt es in der existenziellen Kurzgeschichte der österreichischen Schriftstellerin Ilse Aichinger, die dem Film von Christine Nagel den Titel leiht und eine Art Klammer darstellt, in die unterschiedliche Realitäts- und Erzählebenen, Bilder, Texte und Stimmen eingefasst sind. „Wo ich wohne“, 1963 veröffentlicht, beschreibt in einem realen, alltäglichen Setting, wie die Wohnung der Ich-Erzählerin sukzessive vom vierten Stock in den Keller verlagert wird. Eher schemenhaft als konkret inszeniert Nagel, die Aichinger bei einer gemeinsamen Hörspiel-Arbeit im Jahr 2001 kennenlernte, die Geschichte in einer Schwarz-Weiß-Gegenwart nach: eine Frau in einer Wohnung, im Treppenhaus, die Stufen hinaufgehend, ihre Unsicherheit, wenn sie die Wohnung betritt, suchende Blicke nach Orientierungshilfen wie Stufen, Türen, Türschilder. Einmal sieht man die Frau in einem Tonstudio hinter einer Glasscheibe Text einsprechen, ein Techniker rückt ihr das Mikrofon zurecht – hier öffnet sich der Film ansatzweise zum „Making of“.
„Wo ich wohne“ ist eine Collage aus Werkporträt, topografische Studie und Familien- wie Zeitgeschichte. Die Grenzen zwischen den verschiedenen Bereichen bleiben dabei aber stets durchlässig. Ganz entscheidend lebt der Film von dem Wechselverhältnis zwischen Innen und Außen, den Begrenzungen der Wohnung und dem Umherschweifen im Wiener Stadtraum, der auch ein Erinnerungsraum ist. Man sieht U-Bahn- und Tramfahrten, Blicke aus dem Fenster, Fassaden, Straßen. In die Orte ist der Verlust der Familie eingeschrieben, die 1943 in ein Konzentrationslager deportiert wurde, ebenso die Trennung von der geliebten Zwillingsschwester „Helgi“. Helga Michie konnte 1939 mit einem Kindertransport nach London fliehen, die Schwestern sahen sicher erst 1946, sieben Jahre später, wieder; während dieser Zeit wurden Briefe zum essenziellen Kommunikationsmedium, die im Film von Aichingers Töchtern Mirjam Eich und Ruth Rix gelesen werden.
Erstmals zu sehen sind Super-8-Aufnahmen, die Ilse Aichinger in den 1960er- und 1970er-Jahren an ihrem damaligen Wohnort Großgmain und in Wien gemacht hat: Gassen, Stadtansichten, Mädchen des Wiener Gymnasiums Sacre Coeur, das die Schwestern in Schuluniform besuchten, wobei das Bild plötzlich um 90 Grad kippt, als könne das neutrale Aufzeichnen nicht fassen, was in diesem Moment durch den Kopf geht.
Die überbelichteten Bilder eines Kettenkarussells wirken hingegen so, als hätte die Zeit die Farben mit jeder Kreisbewegung mehr und mehr ausgewaschen. Während Helga Michie in einem Interview bereitwillig Auskunft gibt, ist die 93-jährige Autorin Ilse Aichinger nur in Form von Archivbildern zu sehen. In einem alten Fernsehinterview spricht sie von ihrem dringlichen Wunsch, zu verschwinden – eine anarchische Haltung gegen den Zwang, dem Leben ausgeliefert zu sein. Diesem Wunsch kommt „Wo ich wohne“ schon recht nahe: ein Film wie ein Nachhall.
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