„Ich wollte nie ein Teil der Spiele werden“, sagt Katniss Everdeen. Unvermittelt wird der Zuschauer zu Anfang hineingeworfen in den Strudel der Ereignisse, und wer die ersten zwei Teile der „Tribute von Panem“ nicht gesehen hat, wird sich in den ersten Filmminuten nur schwer zurechtfinden. Doch schnell sind die Grundrisse der Story etabliert, tauchen ein paar bekannte Figuren auf, inklusive eines sardonischen Donald Sutherland als Diktator Snow und inklusive eines posthumem Auftritts von Philip Seymour Hoffman als PR-Berater. Und sofort entfaltet der Film seinen eigenen Schwung: Auch der dritte „Tribute“-Film hält sich an Suzanne Collins’ Bestsellervorlage und liefert somit nicht einfach eine Wiederholung des Immergleichen, sondern eine Weiterentwicklung der Handlung. Diesmal gibt es keine Unterhaltungsindustrie zur Manipulation der Unterschichten mehr, keine Stadt als dekadentes Sündenbabel, keine antikisierenden Kulissen mit Streit-Wagen und Arenen. Die „Hungerspiele“ sind vorbei, denn aus dem Spiel ist längst Ernst geworden. Und der individuelle Widerstand gegen eine Diktatur, der sich im zweiten Teil zur Rebellion erweiterte, ist Revolution geworden.
An aktuelle Weltnachrichten muss man denken, an Syrien und Kurdistan, heimliche Kriege und Folterkeller, aber auch an Occupy, Edward Snowden, Netz-Piraten und andere Bürgerbewegungen des Westens: Die „Panem“-Trilogie handelt vom Kampf des Einzelnen gegen das System, der dritte Teil aber auch von der Rivalität zweier Systeme: des „guten“ Distrikt 13 und des „bösen“ Kapitols. Wobei das "Gute" hier auch seine Schattenseiten hat, auch wenn der Puritanismus des Distrikt 13, sein Charakter als ökologische Tugenddiktatur, die mit Rauch- und Alkoholverbot, Essensvorschriften und diversen Regeln alles Individuelle genauso unterdrückt wie das Kapitol, im Film im Vergleich zum Roman weichgespült wird. Visuell erinnert das Setting an die Dystopie von Fritz Langs „Metropolis“.
Heldin Katniss hat ihre Unschuld verloren. Im zweiten Teil war sie bereits gereift zur traumatisierten Überlebenden, im dritten nun erhält sie messianische Züge. Der Krieg, in den sie geraten ist, wird auch mit Medien geführt, mit manipulativer PR, und Katniss wird zur Symbolfigur diesem Propagandakrieg. Im Tonstudio übt sie ihre Sätze, im Fronteinsatz wird sie von zwei Kameras und einer Regisseurin begleitet. Alles ist Pose, auch das Wahre, Schöne, Gute, alles ist Manipulation, das Echte und Authentische nur eine romantische Sehnsucht.
Auch insofern ist „Panem“ die Geschichte eines Erwachsenwerdens, und der dritte Teil – der in zwei Folgen aufgesplittet ins Kino kommt – steht fürs Postpubertäre, für die Phase des Erwachens aus allen Träumen. „Die Tribute von Panem – Mockingjay Teil 1“ hält nicht nur das Niveau der Vorgänger, dies ist auch der bisher düsterste Film der Trilogie. Individuelles mischt sich hier mit Geschichtsphilosophie, Games-Ästhetik mit Science-Fiction, persönliches Glück mit dystopischem Gesellschaftsbild. Katniss selbst hat dabei mehr zu reden, zu deklamieren und in Großaufnahme bedeutungsvoll in die Kamera zu blicken als zu kämpfen. Wer die ersten beiden Folgen mag, vermisst die unbeschwerten Jagdausflüge in die Natur genauso wie das Körperkino mit seinen Phasen aus Ruhe und Konzentration, das die Spielphasen der beiden ersten Filme prägte. Katniss bleibt diesmal in der Zivilisation und wirkt wohl auch deshalb oft desorientiert, so, als müsse sie ihren weiteren Weg noch finden, oder drohe den bisherigen zu verlieren. Mehr denn je gleicht Katniss in der Verkörperung durch Jennifer Lawrence diesmal einer modernen „Jeanne d’Arc“. Sie kann und will nicht davonlaufen, sie blickt ihrem Schicksal ins Gesicht.
Wie bislang gilt: „Die Tribute von Panem“ sind auch im Kino ein hervorragendes Fantasy-Drama; großes Epos, modern und poetisch. Ein Stoff, der von einer selbstbewussten Heldin handelt, die hübsch und charismatisch ist, aber beides nicht zu offensichtlich und zugleich viel mehr: geschickt, gut und clever. Vor allem traut sich dieser Film, Action und Unterhaltung mit erstaunlich viel Tiefgang zu mischen: Selten hat man in einem Blockbuster soviel Anspruch erlebt und soviel Selbstkritik. Denn das Böse erscheint hier nicht nur durch die Medien, es sind die Medien selbst: „Wenn keiner hinguckt, dann haben sie kein Spiel mehr“ – so lautet seit dem ersten Teil die Moral dieser Geschichte. Diese Botschaft könnte man aus dem Kino mitnehmen, hinein ins eigene Leben.