20.000 Days On Earth

Dokumentarfilm | Großbritannien 2014 | 98 Minuten

Regie: Iain Forsyth

Semidokumentarisches Porträt des australischen Musikers Nick Cave, das den 20.000. Tag im Leben des in Brighton lebenden Künstlers als erzählerische Folie für eine außergewöhnliche Nahaufnahme nutzt. Dabei verschmelzen kunstvoll inszenierte Momente, historische Aufnahmen, Gespräche und innere Monologe mit authentischen Begegnungen sowie einer Handvoll Songs zu einem eindrucksvollen Kunstwerk. Während der Film von Caves Kindheit und Biografie erzählt und dabei souverän zwischen Star-Image und dessen ironischer Brechung changiert, erzählt er auch von Fluch und Segen kreativen Schaffens, Mythos und Wirklichkeit, Wahrheit und Wahn. - Sehenswert ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
20.000 DAYS ON EARTH
Produktionsland
Großbritannien
Produktionsjahr
2014
Produktionsfirma
Corniche Pic./BFI/Film4/Pulse Films
Regie
Iain Forsyth · Jane Pollard
Buch
Iain Forsyth · Jane Pollard · Nick Cave
Kamera
Erik Wilson
Musik
Nick Cave · Warren Ellis
Schnitt
Jonathan Amos
Länge
98 Minuten
Kinostart
16.10.2014
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Wer hätte gedacht, dass Nick Cave Jaguar fährt? Und dass das eheliche Schlafzimmer des einstigen Punk-Provokateurs eine an modische Boutique-Hotels erinnernde, kühl-geräumige Eleganz ausstrahlt? Von solchen kleinen „Aha“-Momenten vermeintlich intimer Blicke hinter die öffentliche Fassade eines Stars leben Dokumentarfilme über Berühmtheiten. „20.000 Days on Earth“ von Iain Forsyth und Jane Pollard scheint geradezu um Übererfüllung dieses Solls bemüht. Die Filmemacher beobachten den Sänger und Musiker, der nebenbei auch noch Literat und Schauspieler ist, nämlich nicht nur bei der Arbeit am Schreibtisch, im Aufnahmestudio und auf der Konzertbühne. Die Kamera wartet bereits am Bettrand, bevor Cave mit dem ersten Weckerklingeln aufsteht. Und ist auch bei der Konsultation des 57-jährigen Australiers bei einem Psychoanalytiker mit dabei. Spätestens hier drängt sich dann die Frage auf, inwieweit das Geschehen inszeniert ist. Dass der Handlungsrahmen konstruiert ist, liegt auf der Hand: Der Film gibt vor, einen Tag – nämlich den 20000. – im Leben des umtriebigen Künstlers zu dokumentieren. Doch man bekommt so viele Impressionen von so vielen Aktivitäten und Begegnungen geboten, wie sie in keinen wirklichen 24-Stunden-Tag passen würden. Während das Gros der Handlung im englischen Brighton, Caves aktuellem Wohnort, angesiedelt ist, flicht der Film auch Bilder von einem Auftritt in der Oper von Sydney ein. Forsyth und Pollard, die von Hause aus bildende Künstler sind, geben immer wieder Anlass, den dokumentarischen Charakter ihres Films zu hinterfragen. So wundert man sich über das Archiv, dem Cave einen Besuch abstattet und das allein seinem Andenken verpflichtet scheint. Der Mann, der mit kantigem Post-Punk begann und sich dann herbem Blues-Pathos verschrieb, hat in seiner langen Nischenkarriere bloß einen einzigen Hit gelandet. Deshalb wirkt es ziemlich seltsam, wenn sich gleich zwei Archivare der Pflege von Cave-Memorabilia widmen. Tatsächlich ist die Szene fingiert. Obwohl der Musiker einen Teil seines Archivs einer Kultureinrichtung in Melbourne überlassen hat, entstanden die Archiv-Filmaufnahmen im Rathaus von Brighton. Die beiden Filmemacher räumen freimütig ein, dass Drehorte ohne Rücksicht auf reale Vorbilder gemäß ihrer Fantasievorstellungen gestaltet wurden. Solche Hintergründe kann man allenfalls erahnen. Eine leise Irritation schwingt allerdings immer mit, da die dokumentarische Form einen spürbar künstlichen Touch aufweist. Das macht die Genrekonventionen bewusst, die dieser fiktionalisierte Dokumentarfilm spielerisch untergräbt. Und sensibilisiert gleichzeitig für jene Inhalte, die offenbar „echt“ sind, etwa Caves Erinnerungen an seine Jugendzeit und den Beginn seiner Karriere. Forsyth und Pollard versichern, dass auch jene Dialoge ungestellt sind, deren Rahmen geradezu traumwandlerisch anmutet: Begegnungen mit ehemaligen Partnern wie Ray Winstone, Blixa Bargeld und Kylie Minogue, die irgendwann unvermittelt neben Cave im Jaguar sitzen. Am spannendsten sind jedoch Caves Diskussionen mit seinem engstem musikalischem Mitarbeiter Warren Ellis über den geradezu magischen Effekt, den einzelne Live-Auftritte oder die Arbeit an unfertigen Songs haben können. Diese leidenschaftlichen Reflexionen über den kreativen Prozess wirken selbst dann mitreißend, wenn man kein Fan von Cave ist. Und sie verleihen der Handvoll Songs, die mehr oder minder komplett angespielt werden, wirklichen Zauber. So wird man schließlich erst recht auf jene biografischen Nebensächlichkeiten neugierig, die der schillernde Film kokett verrätselt. Etwa auf die Frage, welche Automarke Cave wohl im richtigen Leben fährt. Oder, wie sein Schlafzimmer wirklich aussieht.
Kommentar verfassen

Kommentieren