Ein einsamer Fahrdienstleiter auf einem abgelegenen Bahnhof an der tschechoslowakisch-polnischen Grenze wird von traumatischen Erinnerungen an seine Kindheit geplagt. In einem Sanatorium lernt er, sich der Geister der Vergangenheit zu erwehren, während draußen im Herbst 1989 der Eiserne Vorhang fällt. Nach einer Graphic Novel im Rotoskopieverfahren gedreht, greift der Animationsfilm aus der Sicht eines stillen Beobachters historische Ereignisse in der Region des Sudetenlands vom Dritten Reich bis in die 1980er-Jahre auf. Ein umsichtiger, ästhetisch bestechender Film, der eindrucksvoll verdeutlicht, dass die Wunden der Vergangenheit bis in die Gegenwart fortdauern.
- Sehenswert ab 16.
Alois Nebel
Animation | Tschechien/Deutschland 2010 | 87 Minuten
Regie: Tomás Lunák
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Filmdaten
- Originaltitel
- ALOIS NEBEL
- Produktionsland
- Tschechien/Deutschland
- Produktionsjahr
- 2010
- Produktionsfirma
- Negativ/Pallas-Film/Ceska Televize/Tobogang/UPP
- Regie
- Tomás Lunák
- Buch
- Jaroslav Rudis
- Kamera
- Baset Jan Strítezský
- Musik
- Petr Kruzík · Ondrej Jezek
- Schnitt
- Petr Riha
- Darsteller
- Miroslav Krobot (Alois Nebel) · Marie Ludvíková (Kveta) · Karel Roden (der Stumme) · Leos Noha (Wachek) · Alois Svehlík (alter Wachek)
- Länge
- 87 Minuten
- Kinostart
- 12.12.2013
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Animation | Drama | Historienfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Heimkino
Diskussion
Jeseník 9:20 Uhr, Bahnhof Lipová Lázně 9:24 Uhr, Bílý Potok 9:38 Uhr, Ramzová 9:50 Uhr. Die Fahrpläne der Züge, deren Strecken durch die tschechoslowakisch-polnische Grenzregion im Altvatergebirge führen, vermitteln Sicherheit und Orientierung. Aber sie spiegeln auch eine unheimliche Langsamkeit. Dort draußen scheint die Zeit manchmal stillzustehen und Fenster in die Vergangenheit aufzureißen. So geht es auch Alois Nebel, der 1989 als Fahrdienstleiter in dem abgelegenen Bahnhof von Bílý Potok lebt und arbeitet.
Wenn der Nebel aufzieht und die Wälder verschwinden lässt, wird der schweigsame Mann mit traumatischen Erinnerungen konfrontiert. Dann hört er die Stimmen der Menschen, die während des Zweiten Weltkriegs mit dem Zug in ein Konzentrationslager deportiert wurden, dann sieht er, wie die deutschstämmige Bevölkerung des Sudetenlands nach dem Ende des Krieges vertrieben wird, wie aus einstigen Kollaborateuren Kommunisten werden und sich Nachbarn als Feinde gegenüberstehen. Auch Dorothe, die nach dem Tod von Alois’ Mutter auf ihn aufpasste, musste im Juni 1945 den Ort verlassen. In seinen Tagträumen sieht Alois sie mit einem Kinderwagen am Bahnsteig stehen. Der tschechische Soldat Wachek will sie zum Bleiben überreden. Dann fällt ein Schuss.
Irgendwann hält Alois diese Bilder in seinem Kopf nicht mehr aus. Er wird in ein Sanatorium nach Prag gebracht. Als er das Hospital wieder verlassen darf, findet er sich in einer fremden Welt wieder. Der Herbst 1989 hat seine Spuren hinterlassen. Doch die Ereignisse der Vergangenheit sind noch immer nicht verarbeitet.
Der Animationsfilm „Alois Nebel“, den Tomáš Luňák nach der gleichnamigen tschechischen Graphic Novel von Jaroslav Rudiš und Jaromír 99 im Rotoskopie-Verfahren gedreht hat, führt in die Zeit der großen gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen nach dem Zusammenbruch des Ostblocks zurück. In kontrastreichen, reduzierten Schwarz-weiß-Bildern, die durch ihre großen Flächen an Scherenschnitte und durch das Spiel mit Licht und Schatten an den Film noir erinnern, fängt er pointiert die Stimmung jener Zeit ein. Die Orte wirken kalt, abweisend und fremd, die Methoden im Sanatorium archaisch, die Menschen verloren. Opportunismus, schmutzige Geschäfte und Verrat prägen den Umgangston. Nur Nebel bleibt ein stiller Beobachter, nach innen gekehrt und auf der Suche nach einem Weg, seine Tagträume in den Griff zu bekommen.
In dieser Hinsicht ist der Film vor allem ein Psychogramm, das weniger Wert auf eine straffe Handlung legt, sondern in erster Linie am Innenleben seines Protagonisten interessiert ist. Es sind die kleinen Szenen, in denen diese Figur zum Leben erwacht: Wenn Alois als Kind mit weit aufgerissenen Augen einen Mord beobachtet, schweigend mit einen Mann zu Abend isst oder sich in die Putzfrau Květa verliebt, mit der er im Prager Bahnhof tanzt.
Am Rande erzählt der Film zwar auch von einem namenlosen stummen Fremden, der in die Gegend reist, um Rache zu nehmen, und dessen Geschichte eng mit den Erinnerungen von Alois Nebel in Verbindung steht. Doch dieser Nebenstrang wird nur sehr stark verknappt gezeigt. Ohnehin wird stillschweigend historisches Wissen vorausgesetzt, um die Ereignisse richtig einordnen zu können. Ebenso beiläufig nimmt der Film auf die großen politischen Umwälzungen Bezug. Vor allem Nachrichten aus dem Radio geben immer wieder Anhaltspunkte, wieviel Zeit zwischen den Szenen vergangen ist: Die Grenzen werden geöffnet, Václav Havel kündigt seine Kandidatur für das Amt des Staatspräsidenten an, Havel wird gewählt. Die Welt verändert sich schneller, als es die Zugfahrpläne vermuten lassen.
Verdichtet auf eine Region und die Sichtweise eines Beobachters nähert sich der Film so der jüngeren europäischen Geschichte. Alois Nebel hat die einschneidenden Phasen erlebt, von der Besetzung des Sudetenlands nach dem Münchner Abkommen, der Vertreibung der deutschstämmigen Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg bis hin zum Zusammenbruch des Ostblocks. Dass er die Ereignisse nicht abgehakt hat, sondern diese noch immer auf ihm lasten und ihn beschäftigen, macht den Reiz dieser Figur aus. Alois Nebel wird zum Spiegel der Zeit. Unaufdringlich und ohne Partei für nur eine Seite zu ergreifen, legt die Inszenierung damit den Finger in die Wunde und zeigt auf, wie die Traumata der Vergangenheit bis in die Gegenwart fortleben. Der Film ist Anregung wie Aufforderung, die Erinnerung aus dem Nebel zu befreien.
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