Ein zehnjähriges Mädchen treibt sich gelangweilt und unbeaufsichtigt vom ständig alkoholisierten Vater, einem Ziegen-Züchter, im texanischen Hinterland herum. Als die ungestüme Streunerin eines Tages eine Frauenstimme hört, die aus einem tiefen Waldbrunnen um Hilfe schreit, handelt sie anders als es Mitmenschlichkeit und Moral verlangen. Selbstbewusst schwelgt der niedrig budgetierte, bildstark bedrückende Independent-Film in impressionsreichen Momentaufnahmen, die sich zu einem mal komischen, mal unheimlichen Porträt trostloser Abstumpfung verketten und ein unstillbares Bedürfnis nach Ausbruch aus der Beklemmung umschreiben.
- Ab 16.
Kid-Thing
- | USA 2013 | 86 (24 B./sec.)/82 (25 B./sec.) Minuten
Regie: David Zellner
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Filmdaten
- Originaltitel
- KID-THING
- Produktionsland
- USA
- Produktionsjahr
- 2013
- Produktionsfirma
- Zellner Bros.
- Regie
- David Zellner
- Buch
- David Zellner
- Kamera
- Nathan Zellner
- Musik
- The Octopus Project
- Schnitt
- Melba Jordorowsky
- Darsteller
- Sydney Aguirre (Annie) · Nathan Zellner (Marvin) · David Zellner (Caleb) · David Wingo (Phone Mechanic) · Mary Cameron House (Darla)
- Länge
- 86 (24 B.
sec.)
82 (25 B.
sec.) Minuten - Kinostart
- 22.08.2013
- Fsk
- ab 16; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 16.
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Diskussion
Annie ist langweilig. Aus der Sicherheit eines Gebüschs schleudert sie einen dicken Teigballen auf ein erschreckt ausscherendes Auto und streunt, misstrauisch beäugt, mit ihrem Paintballgewehr über Kuhwiesen. Später steht Annie am einsamen Geburtstagstisch eines Mädchens im Rollstuhl, schwingt vor deren Augen den Baseballschläger und lässt diesen auf den Kuchen klatschen. Annie mit der unbewegten Miene ist nicht nur ungestüm und grausam, sie ist auch völlig unbeaufsichtigt von einem Vater, der es sich als Ziegen- und Hühner-Züchter leisten kann, jeden Morgen seinen Rausch auszuschlafen. Doch dann hört die 10-Jährige etwas, das ihrer Langeweile den Garaus macht: Die verzweifelten Hilfeschreie einer Frau. Tief aus einem Brunnenloch mitten im Wald dringt die Stimme der unsichtbaren Esther und fleht Annie, die einzige Passantin seit Tagen, an, Hilfe zu holen. Annie reagiert, aber nicht so, wie es Menschen gegenüber anderen Menschen in Not tun.
Wäre dieses Tomboy-Mädchen mit dem langen Blondschopf über dem noch längeren Männer-T-Shirt erwachsen, man müsste es als Soziopathin bezeichnen. Derart scheint Annie von menschlichen Gefühlen wie Mitleid, Verantwortung und Empathie befreit. Doch wo soll Moral wachsen, wenn sie nie gepflanzt wurde? Selbst den Erwachsenen in Annies Umfeld fehlt jede Fähigkeit zur Selbstreflexion, wenn sie besoffen Gewinnlose rubbeln oder sich mit Silvesterkanonen beschießen. Selbstbewusst reiht David Zellners Low-Budget-Film seine, auch auf der Tonebene, latent beunruhigend gehaltenen Momentaufnahmen trostloser Abstumpfung aneinander. Und immer einen Tick zu lange blickt die Kamera seines Bruders Nathan Zellner auf die verstummten Menschen im texanischen Hinterland, die sich, gleichsam im Naturzustand jeglicher sozialen Einflussnahme enthoben, durch das fruchtbare Grün ihrer Heimat wie Fremdkörper bewegen. Einmal, in der längsten von zwei Konversationen zwischen Vater und Tochter, bekommt Annie gezeigt, wie man ein Huhn hypnotisiert. Die bedingungslose Liebe, die ihr Vater an den Tieren so schätze, bekäme er doch nur, weil er sie füttere, entgegnet Annie desillusioniert ihrem Erzeuger und Ernährer – ein ähnliches Verhältnis wird sie auch zur Frau in der Grube aufbauen.
Annie beginnt so zu handeln, wie es ihr der Instinkt einflüstert, nicht so, wie es die Gesellschaft und Esther als ihre verloren gegangene Vertreterin erwarten. Dabei könnten dieses dunkle Loch und seine Insassin, die Annie mehr als einmal als Teufelin bezeichnet, vielleicht auch nur eine Projektion kindlicher Angst sein, die Ausgeburt der Fantasie eines einsam vor sich hin wütenden Mädchens, das mutterlos kurz vor der Pubertät steht. Annies Erlebnisse in der stillen Tiefe des Waldes sind auf jeden Fall traumartig und abstrus genug gehalten. Was hier anklingt, ist die Epoche der dunkel unheimlichen Phantastik, aber auch ein Blick auf die Kindheit, der deren Unschuld in Frage stellt und anhand der Geschichte eines Kindes, das Schuld auf sich lädt, Fragen nach der Natur des Menschen und der moralischen Konstitution der Gesellschaft stellt. In „We Need to Talk About Kevin“ etablierte Lynne Ramsay zuletzt ein vergleichbar „böses“ Kind. Nur bekommt Kevin alle Liebe, Aufmerksamkeit und Zukunftschancen, die man einem Kind geben kann, während Annies Jugend den vernachlässigten Gegenentwurf darstellt. Was Kevin und Annie jedoch verbindet, ist das, was auch Esther umtreibt: Ein unstillbares Bedürfnis nach Ausbruch aus der Beklemmung. Bei den Kindern des bildstark bedrückenden Independent-Kinos von Zellner und Ramsay ist diese Beklemmung allerdings eine innere.
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