Ein Porträt des brasilianischen Künstlers Hélio Oiticica (1937-1980) jenseits klassischer Künstlerdokus. Ausschließlich mit Found-Footage-Material aus der Kamera Oiticicas komponiert der Film einen mitreißenden Trip durch dessen künstlerisches Leben und Werk. Oiticicas sinnlich-synästhetische Grundoption, den Betrachter in seine Arbeiten mit einzubeziehen, überträgt der Film mit viel Erfolg auf den Zuschauer. (O.m.d.U.)
- Sehenswert ab 16.
Hélio Oiticica
Dokumentarfilm | Brasilien 2012 | 94 Minuten
Regie: Cesar Oiticica Filho
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Filmdaten
- Originaltitel
- HÉLIO OITICICA
- Produktionsland
- Brasilien
- Produktionsjahr
- 2012
- Produktionsfirma
- Guerrilha Filmes
- Regie
- Cesar Oiticica Filho
- Buch
- Cesar Oiticica Filho
- Kamera
- Felipe Reinheimer
- Schnitt
- Vinicius Nascimento
- Länge
- 94 Minuten
- Kinostart
- 03.10.2013
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Diskussion
„Hélio Oiticica“ beginnt mit einer Fuge von Bach. Deren strenge Struktur intoniert ein scheinbar richtungsloses Gewusel in einem Ameisenhaufen; weiter entfernte Einstellungen wechseln mit nahen Aufnahmen. Diese ersten Bilder sind das Präludium, sie nehmen den Film, die Kunst, das konzertierte Chaos vorweg.
Der Regisseur César Oiticica Filho ist der Neffe von Hélio Oiticica, dem wichtigsten brasilianischen Künstler der Nachkriegsgeschichte. Hélio wurde 1937 geboren. Sein Großvater war Anarchistenführer. Seine Überzeugung, dass es schlimmer sei, jemanden zu verurteilen oder einzusperren als zu töten, wurde für Hélio zum Mantra. Man spürt darin eine gewisse Nähe zu den surrealistischen Aufrufen. In Oiticicas Leben und auch in seinem Werk finden sich deutliche Parallelen: Einmal zeichnet er den Schnitt durch das Auge in Luis Buñuels „Ein andalusischer Hund“ mit Kokslinien nach. Auch die Ameisen verweisen auf die surrealistische Patenschaft.
Der Künstler arbeitete in Brasilien zur Zeit der Militärdiktatur. Er konnte also gar nicht anders, als ständig Grenzen zu überschreiten. Sein Werk, seine Ansichten und sein Leben sind nicht voneinander zu trennen. Hélio hat alles manisch dokumentiert. Davon profitiert der kongenial operierende Film: César Oiticica Filho montiert ausschließlich Found-Footage-Material und verknüpft dabei die unterschiedlichsten künstlerischen Medien – Fotos, Zeichnungen, Tanz, Skulptur, Musik, Film, Mode – und Materialien: Film, Super-8, Digitalfilm, hochmusikalisch zu einem pulsierenden Trip, einer synästhetischen Party. Auf der Tonebene begleiten den Film die schönen Lieder der „Tropicálisten“ Caetano Veloso und Gilberto Gil, außerdem Hélio Oiticica selbst. Auf Tonbändern, den „Héliotapes“, spricht er erschöpfend, inspirierend, aber offensichtlich nie erschöpft über sich, seine Erfahrungen mit Drogen, Sex, Jimi Hendrix, Slums, über London und New York, wo er lebte, die Welt und die Kunst.
Schon früh schloss sich Oiticica den Neokonkretisten an. Er lehnte das klassische Gemälde ab und experimentierte damit, Farberfahrungen in den Raum zu tragen. Er entwickelte die sogenannten „Penetráveis“, „durchlässige“, begehbare Konstruktionen aus Farbflächen. Die Beteiligung, die Einbeziehung des Rezipienten war ihm wichtig; die physische Erfahrung des „Betrachters“ konstituierte für ihn gewissermaßen erst das Kunstwerk. Dabei war er gegen jede Art der damals so beliebten „Happenings“. Im Film beschreibt Hélio seinen ersten Besuch einer Favela in Rio als Initiationserlebnis. Sein Werk, die Installationen, die architektonischen Skulpturträume in Farbe, sind stets auf den Körper, die Wahrnehmung angewiesen. Oft zeigt der Film Füße in Großaufnahme, Füße, die die Beschaffenheit des jeweiligen Bodens spüren. Aus Penetráveis bestand auch seine berühmte Installation „Tropicália“ (1967), ausgestellt im Museum für moderne Kunst in Rio. Sie gab den „Tropicálisten“ ihren Namen.
Hélio Oiticica war auch ein Sambatänzer; er tanzte mit seinen Freunden aus der Favela, von der Sambaschule Mangueira. Sie trugen seine Stoff-Skulpturen, die Parangolés, und erweckten sie tanzend zum Leben – Avantgarde und Folklore, absolut sinnfällig verwoben.
„Hélio Oiticica“ ist viel mehr als eine Künstlerbiografie: Der Film erzählt zugleich die Geschichte einer Ära, ein Stück Sozialgeschichte, die Geschichte der Kunst und Kultur Brasiliens und wie sie sich unter und gegen und trotz der Repressionen der Diktatur entwickelte – ohne dass dies blutleer referiert werden müsste. „Hélio Oiticica“ endet mit der Fuge, wie auch anders.
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