Etwa nach einer halben Stunde findet „Django Unchained“ zu Sekunden reinen, von aller Narration losgelösten Bewegungskinos. Die zwei Hauptfiguren, Dr. King Schultz und Titelheld Django, ein von Schultz befreiter Negersklave, die sich im Winter 1858/59 zum Kopfgeldjäger-Männerbund zusammengeschlossen haben – diese beiden Helden von Quentin Tarantinos neuem Film schwingen sich aufs Pferd und reiten in eine mythische Westernlandschaft. Es kostet nur einen mit Überblendung kombinierten Kameraschwenk, schon sind sie aus der Stadt heraus und auf dem Weg in eine flirrende Wüste, in deren Hintergrund man ein schneebedecktes Gebirge sieht. Dann reiten sie im gemächlichen, aber bestimmten Tempo durch einen Wald, eine tiefe Schneelandschaft, an einem See vorbei: archaische Schönheit unberührter Natur, kombiniert mit der Eleganz der Kamerabewegung, perfekter Schnitte und der Musik – eine ästhetische Einheit, die den klassischen Western beschwört und sich doch seines Endes völlig bewusst bleibt. Die Bilder des Spaghetti-Western werden ebenso zitiert wie New Hollywoods aufgeklärte Western-Revivals, etwa Robert Altmans „Mc Cabe & Mrs. Miller“
(fd 17 634).
Immer wieder gönnt Tarantino sich und seinem Publikum Augenblicke solcher Losgelöstheit und gibt seinen Film hin an die Macht der Bilder. Die beiden Hauptfiguren, um die herum Tarantino eine Reihe in wenigen Bildern und Sätzen präzise charakterisierter Nebenfiguren versammelt, sind im Grunde sich selbst genug. „Django Unchained“ ist die Geschichte zweier Individuen, die sich zusammentun für eine gemeinsame Reise, in der der eine zum Lehrer des anderen wird und in der sie beide, auf ganz unterschiedliche Art, am Ende Befreiung und Erlösung finden werden. Der eine ist Django selbst, gespielt von Jamie Foxx: ein Sklave, der die „Sünde“ beging zu heiraten. Zur Strafe wurden er wie seine Braut verkauft. Jetzt hat er nur das Ziel, die Frau, die er liebt, zu befreien und sich an denen zu rächen, die sie und ihn gequält haben. Das Frauenbild ist diesmal das schwächste aller bisherigen Tarantino-Filme: Diesmal gibt es schlichtweg keine wehrhaften, „starken“ Frauen. Der andere, die komplexere Figur der beiden, ist der kaltblütig-zynische Kopfgeldjäger Schultz, der Django zunächst befreit, weil er ihn braucht, um eine lukrative Beute aufzuspüren, bald aber dessen „Naturtalent“ erkennt und ihn den Beruf des Kopfgeldjägers lehrt. Schultz, gespielt von Christoph Waltz als im Gestus ähnliche, aber ins Positive gewendete Version des „Judenjägers“ Landa in „Inglourious Basterds“
(fd 39 417), ist Deutscher. Ihm ist Django sympathisch, und im Zuge dieser wachsenden Freundschaft verändert sich Schultz selbst: Er taut emotional auf. Wenn dieser deutsche Doktor aus dem talentierten Schwarzen eine perfekte Killermaschine formt, ihn dabei das Leben als freier Mann lehrt, während dieses Geschöpf sich zugleich verselbständigt und seinen Schöpfer verändert, fühlt man sich mitunter an die Geschichte von Doktor Frankenstein erinnert. Auch andere Mythen zitiert der Regisseur: Djangos Braut wurde von ihren deutschen Sklavenhaltern auf den Namen „Broomhilda“/Brunhilde getauft – das ist nicht nur ein Witz des germanophilen Tarantino; Schultz enthüllt auch die tiefere Bedeutung, als er Django den Nibelungen-Mythos erzählt und in ihm einen neuen Siegfried entdeckt, der durch die Hölle gehen muss, um seine Brunhilde aus der Gefangenschaft zu befreien.
Derart ließen sich viele der unzähligen Dialogpassagen des 165-Minuten-Films in ihren zweiten und dritten Bedeutungsebenen entfalten. Doch Tarantinos Film ist weit mehr als ein Spiel mit Referenzen aus Hoch- wie Popkultur. „Django Unchained“ ist Dialogkino im zwischen Komödie, Genre- und Autorenfilm angesiedelten Stil dieses Regisseurs. Es ist zugleich Bewegungskino mit rasanten Actionpassagen, elegischen Kamerafahrten und -perspektiven. Selbstverständlich zitiert er die „Django“-Filmreihe und mit ihr die Tradition des Spaghetti-Western sowie des 1960er-Jahre-Kinos wie auch des „Blaxploitation“-Films der frühen 1970er-Jahre, und er überschreitet sie auch von Anfang an.
Noch viel mehr, als man das über manchen „Django“-Film und Werke von Leone und Corbucci sagen kann, ist „Django Unchained“ hochpolitisch: Er ist auch ein Porträt der Lage schwarzer Sklaven und des allgegenwärtigen Rassismus in Nordamerika, wie man es im Blockbuster-Kino noch nicht gesehen hat. Ohne in Betroffenheitsgesten zu verfallen, zeigt Tarantino das Blut auf den Baumwollfeldern, die Brutalität der gerade auch durch Hollywood allzu oft beschworenen Südstaaten-Idylle – die überdies oft mit einem Spruch aus der Bibel (nicht nur dem Alten Testament) gerechtfertigt wird. Es sind die Bösen, die hier „Sweet Jesus“ anrufen. Tarantino klagt auch Bigotterie und Selbstgerechtigkeit an. Er zeigt die Versehrung der Körper schon im ersten Bild – die Narben ausgepeitschter Sklaven –, die Ketten, Halskränze mit Spitzen. Alles ist historisch. Der mitunter grobe Rundumschlag gilt auch der Kollaboration einiger Schwarzer. Die von Samuel L. Jackson gespielte Figur des dämonischen Stephen repräsentiert jene Mitschuld am „Black Holocaust“. Dies ist gerade im Obama-Amerika brisant – und wird in den USA auch so debattiert. Das ändert nichts daran, dass Tarantino vor allem dem weißen Amerika den Spiegel vorhält, indem er vorführt, was die Weißen den Schwarzen einst antaten.
Wie „Inglourious Basterds“ ist auch dieser Film ein Rachedrama nahe an der Wunschfantasie. Von Gewalt, von Explosionen und dem Sterben „der Richtigen“ verspricht sich Tarantino ästhetische Befreiung, wenigstens Erleichterung. Das ist fraglos provokativ. Die Kraft der philosophischen Frage, die der Regisseur stellt – wann Gewalt, wann Rache möglicherweise gerechtfertigt oder als letzter Ausweg legitim sind –, schwächt dieser Befund nicht ab.