Klassische Literatur wird allgemein als „zeitlos“ angesehen, weil sie erzählerisch „formvollendet“ daherkommt und frei von Moden unabhängige Themen verhandelt. Insofern ist Mark Twains Jugendbuch „Die Abenteuer des Tom Sawyer“ aus dem Jahr 1876 in der Tat ein Klassiker, dessen herrliche, satirisch pointierte Episoden von der Liebe nach Freiheit und Unabhängigkeit, von Widerstand und Verantwortung, aber auch notwendiger Anpassung erzählen. Und doch spielt „Tom Sawyer“ (wie die Fortsetzung „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“) ja nicht im luftleeren, abstrakten Raum: Erst die stimmungsvolle, detailfreudige Verortung im Missouri-Städtchen St. Petersburg an den Ufern des Mississippi macht den Roman so einzigartig. Während sich viele Verfilmungen vor allem am äußerlichen Reiz der pittoresken Ort- und Landschaften orientieren, geht Norbert Lechner („Toni Goldwascher“, fd 38 296) einen gänzlich anderen, ebenso mutigen wie reizvollen und dabei höchst erfrischenden Weg, indem er den thematischen Nexus sowie die zentralen Handlungsbögen von Twains Fabel in einen historisch und gesellschaftlich völlig anderen Zusammenhang überträgt – und siehe da: Auch in einer bayrischen Kleinstadt im Mai 1948 während der unsicheren und wirren Jahre der unmittelbaren Nachkriegszeit erweist sich die Fabel als tragfähig, bleibt spannend und ist zudem überraschend erkenntnisreich.
Aus den Twain-Helden Tom Sawyer und Huckleberry Finn wurden die Freunde Tom Sojer und Bartel Hacker, genannt Hacke. Auch bei Lechner lebt Tom bei seiner Tante, die nun Apollonia heißt und sich, ihren eigenen Sohn sowie den verwaisten Tom mit Näharbeiten durchbringt, während die Männer noch längst nicht alle aus dem Krieg zurückgekehrt, die Lebensmittelvorräte knapp und die Schwarzmarktpreise explodiert sind. Da muss manches kostbare, unter großen Entbehrungen durch die Kriegsjahre gerettete Erbstück zum Tausch gegen das Lebensnotwendige herhalten, und so etwas wie Tante Apollonias mechanische Nähmaschine ist ein unendlich kostbares Gut, einfach weil es das Überleben ermöglicht. Dass Tom eines Tages den kleinen Schlitten der Nähnadel abbricht und die Maschine unbrauchbar macht, ist eine existenzielle Tragödie, die Tom zwar erahnt, aber in seiner kindlichen Sorglosigkeit nur allmählich in ihrer ganzen Tragweite erfasst. Für ihn ist der von vielen Defiziten, aber auch von unkontrollierten Freiräumen geprägte Alltag ein einziger riesiger Abenteuerspielplatz, auf dem er sich mit Freund Hacke austobt. Neugierig und staunend beobachtet er das tägliche Treiben, auch an den düsteren Grenzbereichen hin zu Illegalität und Kriminalität, während er die Zwänge der Schule nur zu gerne „aussitzt“. In einer Nacht werden Tom und Hacke Zeuge eines Mordes, den der einarmige Schwarzhändler und Schmuggler Josef Achatz begeht, der wegen seiner Geschäfte mit den US-Soldaten „Ami Joe“ genannt wird und den er einem Unschuldigen in die Schuhe schiebt. Nur Tom und Hacke kennen die Wahrheit, sind aber lange Zeit an ihren gegenseitigen Treueschwur gebunden und schweigen.
Wie bei Twain ist alles da in dieser spannenden, mitunter auch angemessen düsteren (Nachkriegs-)Geschichte: die Kinderstreiche, die „wilden“ Fantasien der Jungs und ihr großspuriges Aufschneiden, vor allem um einem Mädchen wie der scheuen, am Ende aber sehr tapferen Biggi zu imponieren, die Konflikte um Freundschaft, Loyalität und Gerechtigkeit – und doch ist alles ein bisschen anders, weil Lechners „Zeitreise-Kunstgriff“ nun die Befindlichkeiten der konkreten deutschen Nachkriegssituation anspricht: den Schock und die physischen wie mentalen Folgen eines verlorenen Kriegs, die Nöte, Ängste und Verzweiflung angesichts des im Mai 1948 noch nicht absehbaren Neubeginns. Lechner reduziert die zur Einordnung nötigen Informationen auf ein Minimum, vermittelt die Zeitumstände vorwiegend visuell über Ausstattung, Kleidung und Stimmungsbilder, die einem jungen Publikum nie den Spaß an der Geschichte nehmen, es zugleich aber spielerisch dazu anregen, aufzumerken und nachzufragen, warum denn eine „olle“ Nähmaschine oder ein Sack geschmuggelter Zigaretten denn so wertvoll sind, dass sie einen Goldschatz ersetzen. Es ist ein kleines Wunder, wie es Lechner gelingt, mit geringem Budget so dicht und konzentriert zu arbeiten, visuell Stimmung zu kreieren und (überwiegend) mit Laiendarstellern Authentizität zu schaffen. Dass er den Mut hatte, konsequent den dialektalen bayerischen Zungenschlag durchzuhalten, trägt eindrucksvoll zum „Klangbild“ des rundum schönen Jugendfilms bei.