Die wegen Zwistigkeiten unter den Söhnen noch unbeerdigte Urne seines Vorfahren, des Molekularbiologen Sergej Stepanowitsch Tschachotin, nimmt dessen Urenkel zum Anlass, eine Verständigung unter den Streitenden einzuleiten, sowie für einen Film, der die bewegte Lebensgeschichte Tschachotins beleuchtet: In Russland geboren und durch historische Ereignisse immer wieder zur Emigration gezwungen, gelangen ihm bemerkenswerte wissenschaftliche Erfolge, während sein Familienleben unstet und kompliziert blieb. Aus Erzählungen, Fotos, bewegten Archivbildern und Schriftzeugnissen entwirft der Film einen lebendigen Streifzug durch ein Jahrhundert europäischer Geschichte und unterhält dank der facettenreichen Formensprache sowie absurd-komischer Elemente ebenso kurzweilig wie klug.
- Sehenswert ab 14.
Sergej in der Urne
Dokumentarfilm | Deutschland 2009 | 110 Minuten
Regie: Boris Hars-Tschachotin
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Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2009
- Produktionsfirma
- Ma.Ja.De.Filmprod./Liquid Blues Prod.
- Regie
- Boris Hars-Tschachotin
- Buch
- Boris Hars-Tschachotin
- Kamera
- Sirko Knüpfer · Peter Badel · Grischa Schaufuss
- Musik
- Jan Tilman Schade
- Schnitt
- Sirko Knüpfer · Regina Bärtschi
- Länge
- 110 Minuten
- Kinostart
- 23.02.2012
- Fsk
- ab 6; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Heimkino
Diskussion
Die Beisetzung einer Urne ist unter normalen Umständen kein Vorgang, über den man einen Dokumentarfilm drehen würde. Doch im Fall des 1973 verstorbenen Sergej Stepanowitsch Tschachotin, dessen Asche in einem tönernen Behältnis liegt, ist so gut wie nichts normal. Was schon damit beginnt, dass seine Urne seit über 30 Jahren auf einem Schrank in der Pariser Wohnung seines Sohns Eugen stand, weil dieser sich mit seinen Brüdern nicht einigen konnte, wo die sterblichen Überreste des Vaters ihre letzte Ruhestätte finden sollten. Boris Hars-Tschachotin, Urenkel des Toten, dokumentiert in seinem Film seine Versuche, die zerstritten Brüder zu versöhnen, um endlich gemeinsam seinen Urgroßvater irgendwo zu bestatten. Was letztlich auch klappt, wenn auch ohne Versöhnung und völlig anders als geplant.
In Gesprächen mit vier Söhnen, die nie gemeinsam auftreten, zeichnet der Autor das wahrlich bewegte Leben des Sergej Stepanowitsch Tschachotin nach. 1883 in Konstantinopel geboren, erging dieser als 19-Jähriger während der Studentenunruhen in Moskau nur knapp der Verhaftung. 1908 wurde er mit Frau und Kind während des Erdbebens von Messina im sizilianischen Exil verschüttet, doch die Familie überlebte. Über Zwischenstationen in Monaco und Deutschland kehrte er 1913 nach Russland zurück, musste aber bald darauf wieder fliehen und landete über Umwege erneut in Deutschland, wo ihn Anfang der 1930er-Jahre die Nazis wiederum zur Emigration zwangen. In Paris wurde Sergej Stepanowitsch Tschachotin 1941 von der Gestapo verhaftet und ins Konzentrationslager bei Compiègne gesteckt. Nach der Befreiung lebte er in Rom, bis er nach Stalins Tod 1958 in die Sowjetunion zurückkehrte. Diese über Jahrzehnte währende Odyssee hielt Tschachotin nicht davon ab, auf dem Gebiet der Molekularbiologie ein berühmter Wissenschaftler zu werden, der mit den Nobelpreisträgern Einstein und Pawlow befreundet war und bahnbrechende Erfindungen wie das Strahlenskalpell machte. Zudem war er, wo immer er gerade lebte, politisch aktiv, kämpfte gegen totalitäre Systeme und war entschiedener Gegner der Atombombe. Damit nicht genug, war der rastlose Tschachotin auch noch ein fünf Mal verheirateter Frauenheld, der seine Familien regelmäßig im Stich ließ, sobald er einer neuen Liebe begegnete. Wobei er jeweils den jüngsten Sohn mit in die neue Beziehung nahm.
Eine schillernde, aber nicht unbedingt liebenswerte Figur ist dieser Sergej Stepanowitsch, wie er in den Erinnerungen seiner Söhne deutlich wird. Die Emotionen, die die vier gänzlich unterschiedlichen Charaktere mit Tendenz zum Kauzigen gegenüber ihrem Vater hegen, reichen von anerkennender Bewunderung bis zu blankem Hass. Aus ihren Erzählungen, Fotos, bewegten Archivbildern, Briefen des Urgroßvaters und Auszügen aus dessen (nie veröffentlichter) Autobiografie setzt der Autor und Regisseur in souveräner Parallelmontage nicht nur die ungewöhnliche Biografie seines Urahnen zusammen, sondern liefert gleichzeitig auch einen lebendigen, reich bebilderten Streifzug durch ein ganzes Jahrhundert europäischer Geschichte. Zudem besticht die Dokumentation durch eine facettenreiche Formensprache, die nie zum Manierismus verkommt. Dann ist da natürlich noch die Sache mit der Urne, die nach Ansicht des Autors dringend geklärt werden muss. Und dieses Projekt nimmt bisweilen aberwitzige Züge an und sorgt dafür, dass „Sergej in der Urne“ neben all seinen sonstigen Qualitäten zwischendurch auch noch ein umwerfend komischer Film ist.
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