Hand aufs Herz: Wer hätte gewusst, dass das Fußballspiel im Jahr 1874 nach Deutschland kam, und zwar nach Braunschweig, importiert von einem Gymnasiallehrer namens Konrad Koch, der in England studiert hatte und im Auftrag eines (moderat) reformfreudigen Schulleiters am Martino-Katharineum eigentlich „nur“ die englische Sprache unterrichten sollte? Gewiss gehört dies nicht in die Kategorie „Was man wissen muss“, und eigentlich ist der Fußball auch gar nicht das ganz zentrale Thema des Films, war doch der „große Traum“ des Konrad Koch im Kern ein anderer: nämlich mitten im zweiten Deutschen Kaiserreich eine andere Art des Denkens, vor allem des Lehrens in die strenge preußische Geisteshaltung „einzuschmuggeln“. Dabei war der von der Insel mitgebrachte Lederball als anfänglich belächelte Alternative zum schweren deutschen Medizinball vor allem attraktives Mittel zum Zweck, um mit dem Verständnis für die neuen Spielregeln den Kopf für neue Werte frei zu bekommen: für Tugenden wie Fairplay, Respekt und Mannschaftsgeist als Alternativen zur vorherrschenden deutschen „Gesinnung“ von militaristischer Stärke und Unterwerfung sowie der harschen Ideologie von Zucht und Ordnung.
Insofern ist der Film der schwärmerisch-spielerische, von Hoffnung, Aufbruch und utopischer Geisteshaltung getragene Gegenentwurf zu Michael Hanekes „Das weiße Band“
(fd 39 527), jener 40 Jahre später angesiedelten, unmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs bereits schon wieder gespenstisch anmutenden „deutschen Kindergeschichte“, in der sich die gesellschaftlichen Mechaniken der Repression verfeinert und eher subkutan in Abhängigkeit, Angst und Unterwerfung manifestiert haben. Spielte Burghart Klaußner bei Haneke beklemmend eindringlich den autoritätsfanatischen evangelischen Pastor, an dessen Person sich die Katastrophe festmachen ließ, so prägt er nun als liebenswürdiger, etwas schrulliger Schulleiter, der die schulischen Reformen initiiert, die eher heitere und besinnliche Erzählhaltung des Films: Im Stil eines liebevoll ausgestatteten historischen Sozialmärchens entwickelt sich sanft, aber beharrlich die schöne Idee, dass der Einzelne zu schwach sein mag, dem Gegenwind der Herrschenden standzuhalten, dass aber eine Gemeinschaft aus sich „ganzheitlich“ zu Mut, Charakterstärke und Freundschaft aufschwingenden Lehrern und Lernenden sinnbildlich zum „fliegenden Klassenzimmer“ werden kann – so denn die Pädagogik nicht als Mittel zur Züchtigung, sondern zur (Aus-)Bildung im eigentlichen humanistischen Sinne dient. „Der Mensch soll lernen“, schrieb Erich Kästner. „Nur die Ochsen büffeln.“
Der junge Lehrer Konrad Koch (entspannt und doch angenehm präsent gespielt von Daniel Brühl) bringt im Grunde nur den Ball ins Spiel, das alsbald seine eigene Dynamik entwickelt und seine eigenen „Helden“ schafft. Während die konservativen Kräfte aus Klerus, Industrie und Großbürgertum ihrer Empörung gegenüber diesem Generalangriff auf deutsche Werte rigoros Luft verschaffen, entwickeln die unterdrückten Untertertianer aus Kochs Englischunterricht schrittweise ein Gespür dafür, wie sehr sie geknetet, verbogen und in ihrem Grundrecht auf Würde und Respekt missbraucht werden. Gerade in der heiklen Situation, in der sie die erlittenen Mechanismen zu verinnerlichen und sie gedankenlos auf den Umgang miteinander anzuwenden beginnen, verlangt ihnen das neue Ballspiel Ungeahntes ab: Sie müssen sich bekennen, Stellung beziehen. Man mag beklagen, dass die kindlichen Protagonisten dieses (Selbst-)Erkenntnisprozesses ähnlich „plakativ“ gezeichnet werden wie die „bösen“ Erwachsenen: hier der reiche Kapitalistensohn, der die erlebte Gewalt an seine Mitschüler durchreicht, dort das schwache Proletarierkind, Sohn einer alleinerziehenden, ausgebeuteten Mutter, schließlich der dickliche, deshalb zunächst belachte Außenseiter, der das kaufmännische Geschick seines Vaters zu eigener Kreativität nutzt. Freilich werden alle Figuren stets mit so viel Sympathie, ja Herzenswärme mit Leben gefüllt, dass man ihnen ebenso wie der geschickten Spannungssteigerung nur zu gerne folgt und sich vom unverstellten Mut des Films zu Gefühlen anstecken lässt. Damit ist „Der ganz große Traum“ einer der hierzulande viel zu raren selbstbewussten Filme für Kinder und Jugendliche, die sich gar nicht erst vom Etikett „Kinderfilm“ abstempeln und in eine Nische drängen lassen. Mit stimmungsvollen großen Kinobildern lebt auch er einen „ganz großen Traum“, nämlich dass sich von Respekt, Solidarität und Freundschaft über alle Kategorien hinweg erzählen lässt – emotional und vielschichtig.