Dokumentarfilm über eine Produktion am Opernhaus Stuttgart: Der spanische Regisseur Calixto Bieito inszeniert Wagners "Parzival". Dabei geht es nicht darum, dessen skandalumwittertes Regiekonzept zu bewerten, sondern um eine neugierige Beobachtung des gesamten Produktionsapparats, der die Inszenierung von der Arbeit des Dramaturgen bis zu den Bemühungen von Pyrotechnikern und dem Sprachtrainer als logistische Mammutaufgabe bewältigt. Aufschlussreiche Szenen werden mit Gespür für Rhythmus in stimmige Beziehungen gesetzt, wobei mit Kontrasten, aber auch Gags gearbeitet wird. Der Blick hinter die Kulissen regt zum Nachdenken über den heutigen Stellenwert der Oper als subventionierte Kunstform an.
- Ab 16.
Die singende Stadt
Dokumentarfilm | Deutschland 2010 | 92 Minuten
Regie: Vadim Jendreyko
Kommentieren
Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2010
- Produktionsfirma
- filmtank/Staatsoper Stuttgart/ZDF/3sat
- Regie
- Vadim Jendreyko
- Buch
- Vadim Jendreyko · Thiemo Hehl · Thomas Tielsch
- Kamera
- Lothar Heinrich · Vadim Jendreyko
- Schnitt
- Daniel Gibel
- Länge
- 92 Minuten
- Kinostart
- 10.02.2011
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 16.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Heimkino
Diskussion
Von Alexander Kluge stammt bekanntlich der Satz, die Oper sei ein „Kraftwerk der Gefühle“. Was wahrscheinlich stimmt, aber vielleicht von der Kunst und der Rezeption im Saal auf die Produktion des Kunstereignisses selbst ausgedehnt werden sollte. Wie heißt es zu Beginn von „Die singende Stadt“ so schön, untermalt von den Klängen der „Parzival“-Overtüre: „Ein Haus mit 800 Räumen und 1300 Mitarbeitern. Jedes Jahr werden hier zehn Opern inszeniert, prallen Visionen auf die Realitäten des Machbaren. Jede Oper ein babylonischer Kraftakt.“ Der Filmemacher Vadim Jendreyko („Die Frau mit den 5 Elefanten“, fd 39 699) nutzte die günstige Gelegenheit, die nicht unumstrittene „Parzival“-Inszenierung des Spaniers Calixto Bieito am Opernhaus Stuttgart 2010 von Beginn der Arbeit bis hin zum Moment, in dem sich der Vorhang zur Premiere hebt, mit der Kamera zu begleiten. Ein Glücksfall – und dies nicht etwa, weil es sich bei der von Cormac McCarthys postapokalyptischem Roman „The Road“ inspirierten Inszenierung gewissermaßen um einen Skandal mit Ansagen handelte. Nein, Jendreyko dokumentiert nicht die Kontroversen, die diese radikale Neu-Deutung des Bühnenweihfestspiels als Endspiel auslöst, sondern er dokumentiert, wie viel Arbeit, wie viel Enthusiasmus, welche innerbetrieblichen Konflikte und mitunter auch komischen Volten eine solche Inszenierung birgt. Es geht in „Die singende Stadt“ kaum um die Diskussion von Bieitos Regiekonzept, sondern um die ganz konkrete Arbeit, die es braucht, um sie in Szene zu setzen.
Hinter den Kulissen agiert ein Heer von Spezialisten: vom Dramaturgen, der die Regie-Konzeption in Worte gießen muss, um sie zumindest ansatzweise zu vermitteln, über die Handwerker, die mit der Pyrotechnik kämpfen, und die Bühnenbildner, die versuchen müssen, die Visionen des Regisseurs mit der Statik in Einklang zu bringen, bis hin zu den Sprachtrainern, die mühsam dem in Memphis/Tennessee gebürtigen Sänger Gregg Baker für die Amfortas-Rolle ein akzentfreies Wagner-Deutsch beizubringen versuchen. Eine Zumutung in jeder Hinsicht: Immer wieder scheitert Baker an dem Wort „unenthüllt“. Sein Sprachtraining erinnert etwas an die Sprach-Choreografien, wie man sie von Drehberichten von Huillet/Straub kennt. Der Filmemacher Jendreyko weiß sein Material zu schätzen: Er findet einen passenden Rhythmus, setzt Akzente, Kontraste und spielt sogar mit dem Stil des running gag. Es gibt viel zu lachen, auch zu staunen, wenn man diese wundersame Dokumentation sieht: eine titanische Anstrengung für ein paar Stunden Glück, die sich vielleicht nur ein Dutzend Mal wiederholen. Wie arbeitet man mit offenem Feuer auf der Bühne, ohne feuertechnische Auflagen zu verletzen? Wie entwickelt man eine Blutfontäne, die zwar eindrucksvoll ist, aber nicht gleichzeitig zu Schadensersatzklagen aus dem Zuschauerraum führt? Wie lange muss wer nackt auf der Bühne stehen? Und warum? Bestimmte Probleme werden selbst unter permanentem Zeitdruck professionell gelöst; andere künstlerisch elementare Fragen bleiben notwendig offen. Jendreyko vermeidet den Fehler, bestimmte Dinge durch Kommentare, Erläuterungen oder Interviews zu vertiefen oder gar zu diskutieren. Er bleibt ein neugieriger Beobachter, der aufschlussreiche Szenen gesammelt und in sinnvolle Zusammenhänge gestellt hat. Fieberhaft wird hier in einem hoch spezialisierten Kollektiv ein Kunst-Ereignis auf die Beine gestellt. Es ist allerdings ein extrem hoch subventioniertes Kunst-Ereignis für eine erstaunlich kleine Gruppe von Kennern.
Während man sich noch von Professionalität und Enthusiasmus der Mitarbeiter des Hauses begeistern lässt, stellt sich angesichts der nachvollziehbaren Affirmation des Ganzen allmählich ein gewisses Unbehagen ein. Es ist ein Unbehagen, das der Film wider Willen füttert, gerade weil er so gelungen ist. Man beginnt sich unwillkürlich zu fragen, ob es eigentlich heute noch legitim ist, dass eine solch hoch artifizielle, logistisch aufwändige und kostspielige spätbürgerliche Prestige-Kunstform für ein überschaubares Publikum derart subventioniert werden muss, wenn andererseits das öffentliche Geld doch an allen Ecken und Enden fehlt. Was spricht eigentlich dagegen, Opern-Eintrittskarten gemäß den Marktgesetzen ebenso teuer zu gestalten wie beispielsweise Eintrittskarten für ein Sting-Konzert?
Kommentar verfassen