Der schwedische Regisseur Lukas Moodysson („Raus aus Amal“, fd 33 978) erzählt von dem jungen, sympathischen und erfolgreichen New Yorker Ehepaar Leo und Ellen. Leo hat mit einer Spiele-Website derart viel Geld verdient, dass es sich sein Geschäftspartner leisten kann, ihm einen Füller zu schenken, der aus dem Elfenbein von Mammuts gefertigt wurde. Ein deutliches Sinnbild für die Dekadenz einer Wohlstandsgesellschaft – plastisch, vielleicht plakativ. Freilich hat Moodysson den Handel mit Mammut-Elfenbein keineswegs erfunden. Mit diesem Füller soll Leo nun die Unterschrift unter einen Vertrag setzen und seine Internet-Firma für viele Millionen an einen asiatischen Konzern verkaufen. Er fliegt nach Thailand, wo sich der Geschäftsabschluss hinauszögert und er dem Charme einer hübschen Thailänderin erliegt. Eigentlich will er ihr aus der Prostitution heraushelfen und wird so, ohne dass er es merkt, selbst zum Freier. Ellen stellt sich derweil als Notärztin in einer unterbesetzten Klinik der harten Realität außerhalb des Elfenbeinturms. Dienst nach Vorschrift ist kaum möglich, wenn es darum geht, das Leben eines schwer misshandelten Kindes zu retten, das auf ihrem OP-Tisch landet.
Keine Frage, Leo hat in Thailand bedeutende Geschäfte zu erledigen, und Ellens Arbeit ist zwar schlecht bezahlt, doch im Grunde noch viel wichtiger. Jackie aber, die gemeinsame Tochter der beiden, fragt nicht danach. Das achtjährige Mädchen vermisst seine Eltern, obwohl sich das philippinische Kindermädchen Gloria liebevoll um es kümmert. Weil sie die meiste Zeit mit Gloria verbringt, hat Jackie zu ihrem Kindermädchen bald eine engere Bindung als zu ihrer Mutter. Ellen leidet darunter, reagiert eifersüchtig und verbietet Gloria bezeichnenderweise, mit Jackie in ihrer Muttersprache zu sprechen, wofür sie sich später entschuldigt. Ellen fällt es nicht leicht, sich in ihrer Rolle als arbeitende Mutter zurechtzufinden. Eine scheinbar ungehörige Schwäche. Auch Jackies Kindermädchen Gloria ist Mutter. Um Geld zu verdienen, musste sie ihre beiden kleinen Jungen bei der Großmutter auf den Philippinen zurücklassen. In kurzen, quälenden Telefonaten versucht sie, die beiden zu trösten. Als einer der Söhne in die Fänge eines Kinderschänders gerät, reist Gloria Hals über Kopf ab, ohne Rücksicht auf Jackie.
Kritiker nahmen dem Film nach der „Berlinale“-Aufführung 2009 übel, dass er Kinder zeigt, die unter der Trennung von ihren Müttern leiden. Einer modernen jungen Akademikerin mütterliche Skrupel ins Skript zu schreiben, kam offensichtlich einem Affront, einer „archaischen Botschaft“ gleich: „Family values forever.“ Tatsächlich ist „Mammut“ unter der Oberfläche der Globalisierungskritik ein Film, der für die Familie eintritt; Moodyssons Botschaft ist aber kein „Zurück zur Familie“. Vielmehr richtet der Film seinen Blick nach vorn und nimmt auf der Suche nach neuen, harmonischeren Familienmodellen am Ende auch den Vater, der sich im Gegensatz zu Ellen seiner Verantwortung lange nicht stellt und von keinem schlechten Gewissen geplagt wird, mit in die Pflicht. Umso abwegiger erscheint da der Vorwurf, der Film sei reaktionär. Moodysson liefert keine Patentrezepte, schickt Ellen nicht heim an den Herd, sondern deutet lediglich an, dass doppelt Verdienen und das Engagieren von Kindermädchen vielleicht nicht der familiären Weisheit letzter Schluss sind. Dazu greift er bisweilen auf allzu offensichtliche Stilmittel zurück, etwa wenn Jackie und Glorias Kinder in New York und auf den Philippinen, durch Parallelmontage miteinander verbunden, zeitgleich in die Kirche gehen, aber Gloria nicht bei ihren eigenen Kindern sein kann, weil sie dafür bezahlt wird, sich um Jackie zu kümmern. Auch wenn Gloria ihrem jüngsten Sohn vom Geld, das sie in New York verdient, zum Geburtstag einen Basketball schickt, der, wie die Kamera in einer Großaufnahme entlarvt, ursprünglich dort hergestellt wurde, mag einem das reichlich plakativ erscheinen. Unrealistisch ist es nicht.
„Mammut“ bietet engagiertes, emotionales Kino, das formal an manchen Stellen zwar etwas dick aufträgt, es sich inhaltlich aber alles andere als einfach macht. Der Film verknüpft alltägliche Dramen, die den Zeitungen kaum noch eine Meldung wert sind – Prostitution in Thailand, Kindesmissbrauch auf den Philippinen, soziale Kälte und Karriererausch in New York –, zum bewegenden, eindringlichen und aufrüttelnden globalen Gesellschaftsdrama. Die Opferrollen sind hier nicht für bildungsferne, exotische Schichten reserviert, sondern auch für die Tochter aus gutem Hause, sogar für die Profiteure selbst, bei denen es sich um keine aalglatten Politiker handelt, keine schmierigen Waffenhändler oder skrupellose Geschäftemacher, sondern um junge, weltoffene, gut meinende Akademiker. Sie könnten auch Berliner Filmkritiker sein, mit einer Haushaltshilfe aus der Ukraine. „Mammut“ ist bei aller sinnbildlichen Opulenz nämlich ein Film mitten aus dem Leben. Das macht ihn so ergreifend, mitreißend, erschütternd und trotz seiner warmherzigen und differenzierten Herangehensweise offensichtlich auch so provokativ.