„Unsere Welt endet hier und jetzt, aber das Leben muss weitergehen!“ Die Wissenschaft hat die Menschheit zu dem gemacht, was sie ist – und sie wird auch alles beenden. Das Hier und Jetzt von „#9“ ist eine retro-futuristische Dystopie: Der unbändige Forscherdrang hatte einst dazu geführt, dass die Maschinen unkontrollierbar wurden und nicht nur der menschlichen Zivilisation ein unschönes Ende bereiteten. Inmitten der Ruinen erblickt ein Männchen das monochrome Licht einer Welt, in der allenfalls noch bizarre Maschinenmutanten nach letzten Überbleibseln organischen Lebens suchen. Kaum größer als eine Puppe im Kinderzimmer, entdeckt es sein Innerstes dank eines Reißverschlusses an seiner Haut aus grobem Jutegewebe und schaut fragend aus zwei Irisblenden-Augen in eine ungewisse Zukunft. Was das Wesen (noch) nicht weiß, ist, dass es aus einem ganz bestimmten Grund in dem Augenblick ins „Leben“ gerufen wurde, in dem der letzte Mensch aufhörte zu existieren. Es ahnt nicht, dass es der Neunte von ganz Ähnlichen ist, die doch unterschiedlicher nicht sein können. Ausgerechnet #9 ist da, um dem letzten Fünkchen Menschlichkeit, dem Leben auf der Erde eine Zukunft zu geben.
Man ahnt schon wegen der Produzenten Tim Burton und Timur Bekmambetow („Wächter der Nacht“, fd 37 253), der Produktionsgesellschaft Focus Features („Coraline“, fd 39 420) sowie des Regisseurs Shane Acker, dessen grimmiger, Oscar nominierter Kurzfilm „9“ den Anstoß zu diesem Projekt gab, dass der Computer animierte Film nicht den gängigen Klischees einer Hollywood-Erfolgsproduktion folgt: Dies ist kein Trickfilm für Unterhaltungs- und Zerstreuungswillige, die neben ein wenig Moral und „Message“ vor allem kurzweilige Unterhaltung suchen; es ist ein Film, der Waltz With Bashir“
(fd 38 978) oder „Persepolis“
(fd 38 452) weit näher ist als „Oben“
(fd 39 473). Scienc Fiction und Fantasy dienen hier nicht als „Matrix“ für Träume vom Überwinden selbstgemachter Missstände und schwieriger Zeiten. Die Zeit ist mit Beginn des Films für den Menschen bereits abgelaufen. Kein Raumschiff beherbergt ein paar degenerierte Zweibeiner, denen ein kleiner Roboter mit couragiertem Agieren eine neue Lebensgrundlage verschaffen könnte. „Wall*E“
(fd 38 914) würde es in der Welt von „#9“ nicht geben, genauso wenig wie den Menschen. Der hat die Trümmerhaufen der Zivilisation seinen konkurrierenden Stellvertretern überlassen, die da heißen: Ratio und Imagination.
Das Abenteuer, das der „letztgeborene“ Homunkulus namens „9“ zu überstehen hat, beginnt mit der ersten Begegnung eines „Artgenossen“. Mit ihm entwickelt sich in „9“ die Neugier. Wer sind die Monster, die den Seinen nach dem Leben trachten, wer die anderen acht Verbliebenen, und warum sie alle hier und jetzt? Seine Odyssee mit dem tumben Giganten 8, der rebellischen Draufgängerin 7, dem exzentrischen Künstler 6, dem altruistischen Bastler 5, den bewahrenden Archivaren 4 & 3, dem unbekümmerten Denker 2 und dem egoistischen Führer 1 führt ihn zu jener Kreatur, die dank der Ratio eines Wissenschaftlers die Welt beherrscht. Doch in seinen Schaltkreisen agiert nur die Logik, nach der der Mensch überflüssig ist und vernichtet gehört. Die Seele, die die Logik bändigt, hat der Wissenschaftler vergessen. So erfährt man, als es fast schon zu spät ist, dass diese Seele nicht mit dem letzten Atemzug des genialen Schöpfers von der Erde verschwand, sondern in den neun Jutewichteln verborgen ist. Nur sie könnten die Ration bändigen, auch wenn es schon zu spät ist.
In den USA ist „#9“ gemischt aufgenommen worden. Eindruck haben vor allem die ausgefeilte, morbide-fantasievolle Optik hinterlassen, der Einsatz von Farben und Formen und das dramaturgische Handwerk. Gegenüber der Geschichte selbst reagierte man eher ratlos, und die Botschaft verdrängte oder negierte man gar am liebsten. Es ist kein Film, der einer „Yes, We Can!“-Stimmung das Wort redet. Die Erkenntnis, dass Animation selbst in Kombination mit dem Genrefilm grundsätzlich unbequem sein kann, hat sich erstaunlicherweise im Westen immer noch nicht etabliert. Trotz beharrlicher Annäherung an das japanische Anime (Miyazaki) oder die intellektuellen Emanzipationsversuche von Pixar gilt weiterhin die oberste Maxime der leichten Unterhaltung. „#9“ ist nicht so naiv wie etwa „Avatar“
(fd 39 663) und hat deshalb keine Chance. Der US-Major-Verleih hat den Film bereits abgeschrieben und versendet ihn in Deutschland in Erfüllung seiner Verträge. Dass damit ein kleines Meisterwerk verdrängt wird, ist bitter. Shane Acker wählte für sein retro-futuristisches Universum die magischen Puppenwelten eines Jan Švankmajer und der Brothers Quay, erweckt es mit der Emotionalität eines „Edward mit den Scherenhänden“
(fd 28 836) zum Leben, animiert es mit der Hightech-Software aus Hollywood und tönt das Ganze mit der Grimmigkeit der Märchenwelt von Terry Gilliam. Das ist unglaublich schön, traurig und erschreckend in einem, entlässt mit dem seltsamen Gefühl wohliger Betroffenheit und der wagen Hoffnung, dass die, die nach uns kommen, es einmal besser machen als wir.