Insgesamt 17 „Nummer 1“-Hits und 22 „Grammy“-Musikpreise legen nahe, dass Michael Jackson ein gutes Ohr für zündende Melodien besaß. Sein Körper war selbst mit 50 Jahren noch ein bemerkenswert dynamisches Instrument, das die musikalischen Impulse in brillante Bewegungsabläufe umzusetzen vermochte. Der Dokumentarfilm „This Is It“ untermauert diese Statistiken und überrascht mit ungewöhnlichen Einsichten in eine perfekte Pop-Inszenierung. An einer Stelle lässt Jackson seinen Konzertkoordinator Kenny Ortega wissen, dass sein Ohrhörer ihm wie eine Faust in den Kopf schlage. Die Musiksignale würden verhindern, dass er gerade jene Signale spüre, die sein „inneres Gehör“ empfange. Die Interaktion von Jackson mit seinen Musikern, Beleuchtern, Tänzern und Toningenieuren vermittelt den Eindruck, als gebe es zwei musikalische Welten: eine elektro-akustische, die über die Schallwellen der Lautsprecher entsteht, und eine spirituelle, in der Klänge, Rhythmen und Melodien eins sind mit Bewegungen und einer höheren Ordnung. Jackson gibt den modernen Orpheus. Sein Zugang zur Musik erlaubt ihm, die Welt nach Tönen zu ordnen und die Zuhörer in seinen Bann zu ziehen. Diese Botschaft gilt es, hinter dem ungeschliffenen Rohdiamanten des ursprünglich nicht für die Öffentlichkeit kreierten Videomaterials zu entschlüsseln.
Wie kommt es, dass die angekratzte Ikone „King of Pop“ nach mehr als zwei Jahrzehnten Medienrummel noch für Überraschungen gut ist? Anstatt verwegener Fahrten einer entfesselten Kamera über die Massen schreiender Fans eröffnet „This Is It“ einen Blickwinkel auf die Bühnenshow, der oft zwingender als bei herkömmlichen Konzertfilmen ist. So gibt es bei den Proben Momente, in denen Techniker, Musiker oder Tänzer spontan applaudieren und jubeln. Dabei handelt es sich oft nur um eine Hand voll Insider, die eigentlich jeden Trick des Business kennen. Die Kamera schwenkt eher unwillig ins unterbelichtete Auditorium, doch die offenkundige Begeisterung mutet authentisch an. So springt der sprichwörtliche Funke über, wenn sich Jackson am Ende der Ballade „I’ll Be There“ mit seiner Gesangspartnerin Judith Hill ein ekstatisches Call-and-Response-Duett liefert. Die Sänger scheinen sich die Töne der Blues-Skala wie Perlen in immer komplexeren Kunstwerken einander zu Füßen zu legen. Am Ende beschwert sich Jackson, man möge doch bitte die Begeisterung zügeln, da er ansonsten seine Stimme bereits bei den Proben an die Belastungsgrenze führe. Diese Vignette beleuchtet sowohl Stärke als auch Schwäche des Dokumentarfilms: Zum einen erhält man einen vergleichsweise unmittelbaren Blick auf den Medienkünstler und Kontrollfanatiker Michael Jackson; zum anderen dürften jene enttäuscht sein, die einen mitreißenden Konzertfilm erwarten. Wiederholt gibt Jackson die Anweisung ans Mischpult, dass er die Intensität seines Gesangs zunächst auf Sparflamme stelle.
So liegt der Schwerpunkt der Aufnahmen auf der komplexen visuellen Ebene, die vornehmlich aus vier Elementen besteht. Erstens: Michael Jackson, der Tänzer. Die Kamera bleibt meist auf Distanz, um den Künstler in Halbtotalen zu beobachten. So können die Macher nicht auf elaborierte Montagen von Großaufnahmen und Totalen zurückgreifen, was ein Glücksfall ist, bietet sich doch so die seltene Möglichkeit, über längere Phasen die kinematische Dynamik einer Gesangs-/Tanznummer weitgehend ohne Schnitte zu verfolgen. Die distanzierte Kameraposition schönt das von kosmetischen Operationen heimgesuchte Gesicht Jacksons und betont den nach wie vor dynamisch-athletischen Körper. Zweitens: Michael Jackson als Komponist und Songschreiber. Immer wieder unterbricht er seine Musiker, um ihnen zu erklären, wie ein Song rhythmisch zu interpretieren sei, damit er mit seinen Körperbewegungen exakt harmoniert. Hier zeigt sich, dass für Jackson Musik vornehmlich ein Ausdruck von Bewegung und Tanz ist – nicht umgekehrt. Drittens: Jackson als Medienjongleur. Der cineastischen Komponente kommt eine wichtige Bedeutung zu. Hatte er mit „Thriller“, „Black or White“ (beide von John Landis) oder „Ghosts“ (vom Special-Effects-Guru Stan Winston) die Grenzen zwischen Spielfilm und Videoclip bereits verwischt, lässt „This Is It“ erahnen, dass das kreative Team Jackson/Ortega auch im Konzert eine neue Symbiose aus Videosequenzen, Bühneninszenierung und Musik anstrebte. So wurden neue Sequenzen für „Thriller“ gefilmt, um sie mit durch den Saal schwebenden Zombies und den Tänzern auf der Bühne zu koordinieren. Für „Smooth Criminal“ ließ sich Jackson in Film-Noir-Szenen einkopieren, um mit Rita Hayworth (als Gilda) zu kokettieren, sich ein Duell mit Edward G. Robinson oder eine Verfolgungsjagd mit Humphrey Bogart zu liefern. Viertens: Jackson/Ortega koordinieren sämtliche Bewegungsabläufe auf der Bühne mit einer ausgeklügelten Licht- und Feuerwerksshow. Vermutlich hätte er nur einen Bruchteil des Materials zur Publikation freigegeben, da es nicht den traditionellen Konventionen des Marketing zur Glorifizierung eines Pop-Titanen entspricht. Kurioserweise hat das ungewöhnliche Produkt aus teils krudem Material das Zeug, Jackson zu mystifizieren und seinen Ruf als „King of Pop“ nachhaltig im kollektiven Gedächtnis zu verankern. So wurde durch seinen Tod aus dem Präludium zum Konzert eine Coda, die als uneingelöstes Versprechen auf ein beeindruckendes Comeback verweist und gleichzeitig als eigenständiges audio-visuelles Monument die Fantasie aktiviert.