Strange Culture

Dokumentarfilm | USA 2007 | 75 Minuten

Regie: Lynn Hershman-Leeson

Semidokumentarischer Film über den amerikanischen Kunstprofessor Steve Kurtz, der 2004 aus fadenscheinigen Gründen ins Visier der Terrorfahnder geriet. Die reale Justizposse rekapituliert Lynn Hershman-Leeson weitgehend mit traditionellen dokumentarischen Mitteln, während einzelne Situationen nachinszeniert werden und den Raum zur Reflexion über die verschwimmenden Grenzen individueller Identität öffnen. Der Film fesselt als Dokument eines Skandals, der die Brüchigkeit rechtsstaatlicher Prinzipien in Zeiten politischer Hysterie sichtbar macht. (O.m.d.U.) - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
STRANGE CULTURE
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
2007
Produktionsfirma
L5 Prod.
Regie
Lynn Hershman-Leeson
Buch
Lynn Hershman-Leeson
Kamera
Hiro Narita
Musik
The Residents
Schnitt
Lynn Hershman-Leeson
Darsteller
Thomas Jay Ryan (Thomas Jay Ryan) · Tilda Swinton (Hope Kurtz) · Peter Coyote (Peter Coyote) · Josh Kornbluth (Josh Kornbluth) · Steve Kurtz (Steve Kurtz)
Länge
75 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Steve Kurtz ist ein amerikanischer Kunstprofessor und Gründungsmitglied des renommierten Critical Art Ensemble. Ob man die wissenschafts- und wirtschaftskritischen Arbeiten, die er mit jenem Künstlerkollektiv entwickelt hat, als Kunst betrachtet, hängt freilich vom eigenen Kunstverständnis ab. Wenn er zum Beispiel, mit einem Laborkittel bekleidet, Museumsbesuchern anbietet, ihre Lebensmittel vor Ort auf gentechnische Manipulationen zu testen, entspricht das kaum dem romantischen Künstlerbild. Doch ganz gleich, ob man Kurtz in erster Linie für einen Künstler oder politischen Aktivisten hält, es kann eigentlich keinen Zweifel geben, dass er eines bestimmt nicht ist: nämlich ein Terrorist. Trotzdem geriet er 2004 ins Visier von Terrorfahndern und musste bis zum Sommer 2008 befürchten, zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt zu werden. Und als wäre es nicht bitter genug, zum Gegenstand einer kafkaesken Justizposse gemacht zu werden, wurde dieses Schicksal auch noch durch eine persönliche Tragödie eingeleitet. Denn die Sanitäter, die als erste den Verdacht schöpften, dass die Petrischalen und Laboreinrichtungen in Kurtz’ Haus einem sinistren Zweck dienen könnten, wurden gerufen, weil seine Ehefrau und künstlerische Partnerin Hope unvermittelt einem tödlichen Herzinfarkt erlag. Den absurden Skandal rekapituliert „Strange Culture“ über weite Strecken mit traditionellen dokumentarischen Mitteln. Man sieht Fernsehbilder von FBI-Männern, die, in ABC-Schutzanzüge gehüllt, vermeintliches Beweismaterial aus Kurtz’ Haus abtransportieren, sowie Fotos, mit denen Kurtz’ Freunde die gedankenlose Schlampigkeit der Ermittler dokumentierten, die neben vollen Mülltüten auch haufenweise ermittlungsrelevante Notizen im Vorgarten des Künstlers hinterließen. In Interviews kommen Kollegen von Kurtz zu Wort, die amüsiert berichten, welche Richtung die Ermittlungen nahmen, nachdem zweifelsfrei fest stand, dass Kurtz keinesfalls für Hopes Tod verantwortlich war. Die FBI-Leute konfrontierten demnach eine Professorin allen Ernstes mit der Frage, ob ihr Kurtz spontan als Verdächtiger in den Sinn käme, falls es in Buffalo, dem gemeinsamen Wohnort, einen Anschlag mit Biowaffen gäbe. Allgemeinere Fragen zielten offenbar schlicht darauf ab, ob der Verdächtige regierungskritische Bemerkungen gemacht habe. Bis Kurtz selbst zu Wort kommt, vergeht allerdings auffallend viel Zeit. Das dürfte daran liegen, dass er keine öffentlichen Stellungnahmen zu bestimmten Punkten des damals noch schwebenden Verfahrens abgeben mochte. Diesen Umstand nimmt die Filmemacherin Lynn Hershman-Leeson zum Anlass, einzelne Situationen nachzuinszenieren und diese „zweite“ Handlungsebene gelegentlich zur Reflexion auf das zentrale Thema ihrer Filme und künstlerischen Arbeit – die verschwimmenden Grenzen individueller Identität – zu nutzen. Wenn sie Kurtz und den Schauspieler, der ihn spielt, nebeneinander in identischem Outfit vor die Kamera setzt, ist das allerdings für solche philosophischen Fragen ebenso wenig aufschlussreich wie mit Blick auf den hier dokumentierten Fall. Gleiches gilt für vereinzelte Kommentare von Tilda Swinton, die in Hershman-Leesons ersten beiden Langfilmen „Conceiving Ada“ und „Teknolust“ die Hauptrollen spielte und jetzt Hope verkörpert. Gleichzeitig ist Lynn Hershman-Leeson nicht darum bemüht, die Details jener kleinkarierten Anklage zu vermitteln, die gegen Kurtz erhoben wurde. Denn nachdem sich der Terrorverdacht als haltlos erwies, wurde ihm und einem Genetikprofessor der spitzfindige Vorwurf gemacht, gegen einen privaten Kaufvertrag verstoßen zu haben, weil der eine dem anderen eine harmlose, legal im Internet erworbene Bakterienkultur überlassen hatte. Allerdings ist die ganze Geschichte so unfassbar und haarsträubend, dass sie, ungeachtet kurzer Anflüge prätentiösen Leerlaufs, allemal die Aufmerksamkeit fesselt – zumal sie geradezu ein Musterbeispiel dafür abgibt, wie in Zeiten von Krieg und politischer Hysterie sogar in einem Rechtsstaat kritische künstlerische und wissenschaftliche Praktiken zum Ziel grotesker Verdächtigungen werden können.
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