Tehilim (Psalmen)

- | Israel/Frankreich 2007 | 98 Minuten

Regie: Raphaël Nadjari

Der Vater einer jüdisch-orthodoxen Familie in Jerusalem verschwindet nach einem Autounfall spurlos und stürzt seine Angehörigen in Verzweiflung. Während sich die Mutter in Pragmatismus und Schweigen flüchtet, sucht sein ältester Sohn Hilfe bei den religiösen Traditionen, deren Verheißungen er wörtlich nimmt. Das präzise beobachtete Drama ist weniger an den psychischen Prozessen als an Alltagsritualen und Strategien interessiert, mit denen die Menschen auf die Ungewissheit reagieren. Daraus entsteht ein differenziertes Bild orthodox-israelischen Lebens und seiner Herausforderung, Tradition und Moderne zusammenzubringen. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
TEHILIM
Produktionsland
Israel/Frankreich
Produktionsjahr
2007
Produktionsfirma
Transfax Film Prod./BVNG Prod./2.1. Films
Regie
Raphaël Nadjari
Buch
Raphaël Nadjari · Vincent Poymiro
Kamera
Laurent Brunet
Musik
Nathaniel Mechaly
Schnitt
Sean Foley
Darsteller
Michael Moshonov (Menachem) · Limor Goldstein (Alma, die Mutter) · Yonathan Alster (David, kleiner Bruder) · Shmuel Vilojni (Eli, der Vater) · Ilan Dar (Shmuel, der Großvater)
Länge
98 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Externe Links
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Diskussion
Ein Mensch verschwindet spurlos und stürzt seine Angehörigen in einen Abgrund aus Ungewissheit und Verzweiflung. Aus dieser Situation hat das Kino schon viele eindringliche Filme zwischen Thriller und Melodram entwickelt. Auch „Tehilim“ ließe sich jener Gruppe zurechnen, in der das Ringen mit den Folgen den Ton angibt, würde seine Variante nicht Teil einer Art filmischen Chronik aktueller jüdischer Lebensformen sein. Seit „I am Josh Polonsky’s Brother“ (2001) spürt der in Marseille geborene Raphaël Nadjari den Eigenarten und Widersprüchen der verschiedenen jüdischen Communities nach, sei es in Amerika, Frankreich oder in Israel, wobei er sich eingängiger Genre-Elemente bedient, die in der Folge vielfach gebrochen werden. „Tehilim“ beginnt mit einem Establishing-Shot auf Jerusalem, dem Szenen einer Thora-Auslegung folgen, in der es um die Fragen der Orientierung in unübersichtlichen Gefilden geht. Wie soll man auf rechte Weise zu Gott beten, wenn man, etwa in der Wüste, nicht weiß, in welcher Richtung der Tempelberg in Jerusalem liegt? Das ist eine durchaus ernste Frage, weil der Film im Milieu moderner jüdischer Orthodoxie spielt und das Thema symbolhaft die Schwierigkeiten des etwa 15-jährigen Menachem vorwegnimmt, der mit dem Verlust seines Vaters nur schwer klarkommt. Er saß mit im Wagen, als sein Vater mitten in Jerusalem vom Weg abkam und ihn losschickte, um Hilfe zu holen. Doch als Menachem wenig später zurückkehrt, ist der Vater wie vom Erdboden verschluckt. Eben noch ein pubertierender Schüler, wortkarg und unzugänglich, mit den Gedanken bei seiner Freundin und auf Abgrenzung zu seinem jüngeren Bruder bedacht, fühlt Menachem plötzlich die Last des Ältesten auf seinen Schultern, der am Sabbat den Familienvorsitz zu übernehmen hat. Erschwerend kommt hinzu, dass die Familie keine ideologische Einheit bildet; Menachems Mutter stammt aus einer nicht-religiösen Familie aus Tel Aviv. Sie hat sich den Alltagsregeln der Orthodoxen zwar angepasst, ist aber nicht in der Lage oder willens, sich ihrem Schwiegervater zu fügen, der auf die Krise mit forcierten religiösen Übungen, etwa regelmäßigen Gebetstreffen, reagiert. Auf seine Weise versucht jeder in der Familie, mit der Unsicherheit und Trauer klarzukommen, was zunehmend regressive Züge annimmt, da auch nach Monaten der Vermisste nach israelischem Recht nicht als tot betrachtet wird. Insbesondere Menachem igelt sich immer mehr ein, sucht Halt in der religiösen Tradition, für die sein Großvater steht. War die Kippa auf seinem Kopf bislang Zugeständnis an die familiären Gepflogenheiten, nimmt er inzwischen die Gebete und Sinnsprüche aus den Psalmen wörtlich. Was ihn dann auch auf die Idee verfallen lässt, Geld, das er seiner Mutter entwendet, in die titelgebenden Tehilim-Büchlein zu stecken und auf der Straße an Passanten zu verteilen, die für die Rückkehr seines Vaters beten sollen. Mehr als diesen Vertrauensbruch braucht Nadjari nicht an dramaturgischer Zuspitzung, um die Widersprüche auf den Punkt zu bringen, die das Leben der orthodoxen Juden in Jerusalem zwischen Tradition und Moderne prägen. Der szenische Zuschnitt ist dabei so gewählt, dass Figuren und Milieus primär aus Menachems Perspektive gestreift werden; mancher Nebenstrang erfordert deshalb fast Insider-Kenntnisse oder zumindest eine aufmerksame Interpretation; so zieht sich die Mutter fast fluchtartig zurück, als Menachem zu Beginn des Sabbat erstmals seinen Vater vertritt und sich dabei wie die Karikatur eines Familienoberhaupts benimmt; von ihren Gefühlen nehmen Menachem und sein Bruder indes keine Notiz, sondern machen sich ungerührt übers Essen her. Nadjaris Kunst besteht gerade darin, auf den inszenatorischen Spuren der Brüder Dardenne das Geschehen auf Menachems psychische Verfasstheit zu konzentrieren, ohne in dessen Innenperspektive abzugleiten. Die Kamera folgt ihm häufig von hinten und rückt ihn meist an den Bildrand, als wäre er nur eine begleitende Figur auf dem Schlingerkurs durch das Gewirr der Gassen und Befindlichkeiten, wobei er meist nur Bruchstücke, Schlaglichter und Momentaufnahmen aufschnappt, die für einen innerlich zerrissenen 15-Jährigen nur schwer ein zusammenhängendes Bild ergeben. Die pragmatische Reaktion seiner Mutter, die sich scheinbar nur um die materiellen Dinge kümmert, löst nicht nur beim Sohn Befremden bis hin zur offenen Ablehnung aus. Ähnlich sorgfältig bezieht sich der Film auf die israelische Gesellschaft als Ganzes. Dass Menschen verschwinden oder das Leben Gefahren ausgesetzt ist, klingt in den Szenen rund um den Unfall und in seiner bürokratischen Bewältigung an. Auch hier wird deutlich, dass sich Nadjari als ein Chronist versteht, der es vermeidet, Figuren oder Szenen auch nur ansatzweise ironisch zu brechen; sein Film bewertet oder wertet keinen der Wege und Irrwege, sondern entwickelt sie mit Sympathie und Verständnis aus den Situationen heraus. Am Ende sitzt die Mutter mit ihren Söhnen in einem zugigen Bushäuschen, in ihrer Tasche das Dokument, das ihren Mann offiziell für vermisst erklärt. Es ist viel Abstand zwischen ihnen, und doch scheinen sie eine Familie zu sein. Darauf will Nadjari offensichtlich hinaus, dass es bei aller weltanschaulichen Differenz und Unversöhnlichkeit der Anschauungen noch einen gibt, der Platz für jeden lässt.
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