In der „Ilias“ warnt Cassandra ihre trojanischen Landsleute vergeblich vor dem hölzernen Pferd der Griechen, dessen unheilvolle Bedeutung sie im Traum vorhersah. Das mag den beiden Brüdern nicht klar sein, die in Woody Allens Film ihr Segelboot „Cassandra’s Dream“ nennen: Sie übernehmen den Namen von einem Windhund, auf den der eine von ihnen in einem Rennen erfolgreich gewettet hat. Tatsächlich entpuppen sich die Erfolge, die die Personen hier erringen, jedoch als nicht minder trügerisch als das sagenhafte Geschenk der Griechen. Im letzten Film von Allens britischer Trilogie geht es erneut um den Themenkomplex Wünsche, Verrat, Schicksal und Schuld. Und um Mord. Doch im Gegensatz zu „Match Point“
(fd 37 397) und „Scoop“
(fd 37 879) siedelt Allen seine Geschichte diesmal in der Arbeiterklasse an.
Ian, Anfang 30, hilft seinem Vater in dessen kleinem Restaurant im Cockney-Viertel von London. Er hat hochfliegende Träume, will in Kalifornien ins Hotelgeschäft einsteigen, hat aber kein Geld und verliebt sich dazu noch in eine ambitionierte Schauspielerin, die nach Hollywood will und um derentwillen Ian über seine Verhältnisse lebt. Also pumpt er seinen Bruder Terry an, einen Automechaniker, der manchmal beim Poker und Windhundrennen viel Geld macht, manchmal aber auch horrende Verluste einstecken muss und obendrein allzu gerne Whisky trinkt. Als Terry gerade einmal eine hübsche Summe gewonnen hat, überredet ihn Ian, ein Segelboot zu kaufen – in Erinnerung an ihre Jugend und als Umsetzung des Traums von Freiheit, Reichtum und Glück. Wenn sie dann auf dem Wasser sind, ist alles gut. Bis Terry 90.000 Pfund verzockt und in arge Bedrängnis gerät, aus der ihm nur Onkel Howard aus Amerika helfen kann. Der ist als Schönheitschirurg reich geworden und unterstützt die Familie seiner Schwester schon seit Jahren. Zufällig ist er in London und bereit, sowohl Terry bei seinen Schulden als auch Ian bei seinen Immobilienplänen zu helfen – verlangt aber im Gegenzug, dass seine Neffen einen seiner Mitarbeiter aus dem Weg räumen, der gedroht hat, Onkel Howards illegale Tricks vor der Finanzbehörde auszuplaudern. Das stürzt die Brüder in einen tiefen Gewissenskonflikt, zumal Onkel Howard sagt, dass er niemandem sonst auf der Welt traue, was den jungen Männern in gewisser Weise schmeichelt.Das Hin und Her der Brüder, ob sie den Auftragsmord nun durchführen, und wenn ja, wie, zeigt den Humor und die Ironie des Altmeisters Woody Allen auf dem Höhepunkt seiner Drehbuch- und Regiekunst. Die Diskussionen der beiden schwanken zwischen völliger Entrüstung, ethisch-moralischen Bedenken der höchsten Natur und naiven Gedankenspielen nach Mafia-Manier – bis sie zur Erkenntnis kommen, dass ihnen wohl kein anderer Weg bleibe. Ian, der von seiner zukünftigen Karriere und dem Leben mit seiner Geliebten träumt, fungiert als treibende Kraft, während Terry eher überredet werden muss. Seine Gewissensbisse bewirken indes auch nicht mehr als Cassandras warnende Träume.
Man muss schon ein Gespür für die vielen Feinheiten haben, um diese Tragikomödie genießen zu können. Das fängt mit den verschiedenen Arten von Hilflosigkeitsanfällen der Brüder an, mit ihrer Ungeschicklichkeit und ihrer Unfähigkeit, cool zu sein. „Du siehst aus, als hättest du jemanden umgebracht“, meint Terrys Frau einmal zu ihrem Mann. Diese klassische Situationskomik ist es auch, die Allens tragische Helden immer wieder sympathisch wirken lässt. Obwohl die beiden nicht so richtig zusammenpassen wollen: Der ungewohnt besetzte Ire Colin Farrell als melancholische Spielernatur und der Schotte Ewan McGregor als energischer, nach vorn blickender „Macher“, der sich für smarter hält als er ist, finden nie wirklich zueinander. Reminiszenzen an „Die Brüder Karamasow“ und „Schuld und Sühne“ von Dostojewskij sind unübersehbar, an Thriller wie „Nur die Sonne war Zeuge“ (fd 9 531) und britische Komödien wie „Kleine Morde unter Freunden“
(fd 31 467), auch an die ersten beiden Filme aus Allens britischer Trilogie. Wie seine zwei Vorgänger ist „Cassandras Traum“ kein typischer Woody-Allen-Film: Die Filmmusik klingt nicht so, wie man sie von Minimalist Philip Glass gewohnt ist, zudem wird weniger gesprochen als üblich, und auch die Bilder sind manchmal eher Hollywood-Klischee als Kunstkino. Trotz der intellektuellen Ansprüche ist Allens Film aber stets unterhaltsam. Die Moral hinter der Geschichte muss sich ohnehin jeder selbst suchen.