Nicht böse sein!

Dokumentarfilm | Deutschland 2006 | 95 Minuten

Regie: Wolfgang Reinke

Dokumentarfilm über drei Berliner Suchtkranke - zwei sind von Heroin abhängig, der dritte ist Alkoholiker -, die sich in einer Art Notwohngemeinschaft zusammenraufen, um ihr tägliches Überleben zu organisieren. Schonungslos werden die Charakterbilder erstellt und Menschen in ihren persönlichen Teufelskreisen gezeigt, ohne dass moralisierende Urteile gefällt würden. Die beachtliche Dokumentation zwingt den Zuschauer zur Wirklichkeitswahrnehmung. - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2006
Produktionsfirma
Lunachod
Regie
Wolfgang Reinke
Buch
Gines Olivares · Wolfgang Reinke
Kamera
Gines Olivares
Musik
Christian Steinhäuser
Schnitt
Gines Olivares · Wolfgang Reinke
Länge
95 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Diskussion
Eine therapeutische Wohngemeinschaft ist es gewiss nicht, in der Wolfgang, Dieter und Andreas ihr Leben zu organisieren versuchen. Dabei wäre dies nicht die schlechteste Lösung; alle drei sind schwer suchtkrank und wären überall besser aufgehoben als in ihrer derzeitigen Bleibe am Berliner Laurenz-Platz, zumindest in dieser Wohnkonstellation. Wolfgang, der bessere, wenn auch nicht trockenere Zeiten gesehen hat, macht aus seinem Alkoholproblem keinen großen Umstand. Er ist Schriftsteller, der scheinbar im Eigenverlag publiziert, und Wohnungsinhaber und hat die Junkies Dieter und Andreas als Untermieter aufgenommen. Mit 35 Euro sind sie dabei: Dieter, der seinen Stellungsbefehl wegen einer Haftstrafe immer wieder aus Angst vor dem Entzug hinauszögert, darf in der Küche wohnen, der scheue Andreas, der den ganzen Tag mit Geldbeschaffung zu tun hat, um seine Sucht zu finanzieren, im Badezimmer. Eine konfliktträchtige Wohnsituation, in der sich die Gespräche immer wieder um Drogen und Geld drehen und die Stimmung zum Zeitpunkt der Dreharbeiten, gelinde gesagt, angespannt ist. Mit „Nicht böse sein!“ dokumentieren die Filmemacher ihre unmittelbare Nachbarschaft, in puncto finanzieller Perspektive wohl auch die eigene Situation zu Beginn der Dreharbeiten. Realisiert wurde der Film mit 3.000 Euro, die durch Spenden und das Arbeitslosengeld der Filmemacher zusammenkamen; eine Produktionsförderung von 15.000 Euro des Landes Mecklenburg-Vorpommern ermöglichte das erstaunlich professionelle Aussehen dieser speziellen „Reise in die Dunkelheit“. Denn dunkel sind nicht nur die Perspektiven der drei Protagonisten, sondern ist auch das Leben miteinander, das von ständigem Zank geprägt ist. Doch der Film arbeitet sich in tiefere Bereiche vor: Die Junkies, die das Ihre zur Verwahrlosung der Wohnung beitragen, beschweren sich über den „Alki“ Wolfgang, der in seinen wenigen lichten Momenten schreibt, dessen Tagesablauf aber vom Trinken bestimmt ist. Er kümmere sich um nichts, auch nicht um den gemeinsamen Hund, und überhaupt, sie haben wenig Verständnis dafür, dass er seine Droge an jedem Kiosk an der Ecke für „kleines Geld“ kaufen kann, während sie sich in ganz Berlin die Hacken ablaufen. Wolfgang wiederum, der akribisch ein „Haushaltsbuch“ führt, zetert, dass seine Mitbewohner saumselig seien und ihr Leben nicht in den Griff bekämen. Der Film verteilt keine Sympathie, die verteilt sich ganz von allein. Recht bald wird klar, dass mit Wolfgang – in Relation mit seinem Alkoholspiegel – nicht gut Kirschen essen ist, dass Dieter ein netter Kerl ist, dessen Mutter noch immer glaubt, dass er von der Nadel kommt, und dass der schweigsame Andreas immer wieder den Versuch unternehmen wird, seine Sucht zu überwinden. Allein, an eine Änderung der Situation mag man nach 95 packenden Minuten nicht so recht glauben. „Nicht böse sein!“ ist ein höchst eindringlicher Dokumentarfilm, der mit statischen Mitteln ebenso vorurteilsfrei wie emotionslos ein Milieu beschreibt, das man bei einiger Anteilnahme auch vor der eigenen Haustür lokalisieren könnte, das in der eigenen Wahrnehmung aber meist ausgeblendet wird. Dies lässt der Film nicht zu, er zeigt Angst vor dem Entzug, die Erlösung nach dem endlich aufgetriebenen „Schuss“, den täglichen Stress, um am Leben zu bleiben, die böse Fratze des Alkohols. Menschen, die sich mit ihren Defiziten zu arrangieren versuchen und immer wieder an ihre Grenzen stoßen. Ein Teufelskreis, der sich in Kleinkriegen Ventile schafft, den aber niemand wirklich zu verlassen wagt. Der Film verlangt einem einiges an Wirklichkeitswahrnehmung ab, ohne zu suggerieren, dass es einen Ausweg gäbe. Das Leben ist hier und jetzt und spielt sich nicht in Träumereien ab.
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