Das Mädchen, das die Seiten umblättert

Psychothriller | Frankreich 2006 | 85 Minuten

Regie: Denis Dercourt

Als Aushilfserzieherin bekommt eine junge Frau die Gelegenheit, sich an einer gefeierten Klaviervirtuosin zu rächen, die ihr einst durch eine kleine Unachtsamkeit ihre eigene Karriere als Pianistin versperrte. Der sehr verhalten inszenierte Psychothriller lebt vom verschleppten Tempo ebenso wie vom virtuosen Zusammenspiel der beiden überzeugend interpretierten Protagonistinnen. Indem so der Zustand der gegenseitigen Belauerung erotisch aufgeladen wird, erhält der Film eine zusätzliche reizvolle Dimension. - Ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
LA TOURNEUSE DE PAGES
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2006
Produktionsfirma
Diaphana Films/France 3 Cinéma/Les Films à Un Dollar
Regie
Denis Dercourt
Buch
Denis Dercourt · Jacques Sotty
Kamera
Jérôme Peyrebrune
Musik
Jérôme Lemonnier
Schnitt
François Lédigier
Darsteller
Catherine Frot (Ariane Fouchécourt) · Déborah François (Mélanie Prouvost) · Pascal Greggory (Jean Fouchécourt) · Xavier De Guillebon (Laurent) · Christine Citti (Madame Prouvost)
Länge
85 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Psychothriller
Externe Links
IMDb | TMDB | JustWatch

Heimkino

Die Standard Edition enthält u.a. ein ausführliches und interessantes "Making of". Die "Special Edition" enthält zudem den Soundtrack auf separater CD.

Verleih DVD
Alamode (16:9, 1.85:1, DD5.1 frz./dt.)
DVD kaufen

Diskussion
Es sollte ihr großer Tag werden. In vielen Stunden am Klavier hat die zehnjährige Mélanie hart auf die Aufnahmeprüfung am Musikkonservatorium hingearbeitet. Doch dann platzt beim Vorspielen ein Fan der Jurypräsidentin Ariane Fouchécourt in den Saal, um sich von der gefeierten Pianistin ein Autogramm geben zu lassen. Die kleine Mélanie lässt sich ablenken, kommt aus dem Takt und verpatzt den Rest ihres Vortrags. Der Traum von einer Musikkarriere geht jäh zu Ende. Mit diesem präzise pointierten Prolog, der wie ein in sich geschlossener Kurzfilm funktioniert, eröffnet der französische Autor und Regisseur Denis Dercourt in „Das Mädchen, das die Seiten umblättert“ die Geschichte einer stillen Rache. Es ist ein Auftakt wie mit einem Paukenschlag. Dann, zehn Jahre später, beginnt das eigentliche Stück. Mélanie absolviert mittlerweile ein Praktikum in einer renommierten Anwaltskanzlei. Als ihr Chef für seinen Sohn aushilfsweise ein Kindermädchen sucht, bietet sie ihre Hilfe an. Bald darauf tritt sie den Dienst auf dem herrschaftlichen Landsitz an. Dort begegnet sie auch der Ehefrau ihres Bosses; keiner anderen als Madame Fouchécourt. Die Konzertpianistin erkennt das kleine Mädchen von einst in der bildschönen jungen Frau nicht wieder, aber Mélanies Lippen umspielt ein geheimnisvolles Lächeln. Wenig später beobachtet die Aushilfsgouvernante die große Künstlerin beim Üben am Klavier. Schweigend schaut sie ihr zu. Ihr Blick wirkt bewundernd, sehnsuchtsvoll, beinahe gierig. Dann tritt sie ruhig und entschlossen neben das Klavier und blättert im genau richtigen Moment für Madame die Notenblätter um. Es dauert nicht lange und die Hausherrin engagiert das Kindermädchen als ihre persönliche Notenwenderin, die sie unterstützen soll bei den wichtigen, für ihre weitere Karriere richtungsweisenden Auftritten, die ihr bevorstehen. Eine verhängnisvolle Entscheidung, wie sich zeigen wird. Der gelernte Musiker und Sohn einer Klavierlehrerin, Denis Dercourt, der am Nationalkonservatorium Straßburg Bratsche und Kammermusik unterrichtet, inszeniert in dem ihm vertrauten Umfeld einen packenden Thriller, der den Zuschauer ohne Knalleffekte mit seiner dichten, bedrohlich aufgeladenen Atmosphäre in den Bann zieht. Der Plot an sich mag zwar an genretypisches Effektkino in der Art von „Die Hand an der Wiege“ (fd 29 645) erinnern. Hin und wieder schürt auch Dercourt blutrünstige Assoziationen, wenn etwa Mélanie dem ihr anvertrauten Schützling durch einen engen, düsteren Korridor ins hauseigene Schwimmbad folgt und ihn dort für Sekunden unter Wasser drückt. Tatsächlich aber erzählt der Regisseur zwischen Schocktönen und Bachklängen ungleich subtiler – so wie Mélanie sich auf viel heimtückischere Weise rächt. „Hast du gesehen, wie sie dich beobachtet?“ wird Ariane Fouchécourt einmal von einer Freundin gefragt. „Wie denn?“, fragt die Künstlerin. „Aufmerksam“, lautet die Antwort, die den Schlüsselbegriff für den Erzählstil des Films liefert. Aufmerksam beobachtet die Kamera die Protagonisten, bleibt dabei auf Distanz und pirscht sich nur gelegentlich von hinten an sie heran. Catherine Frot, die vor kurzem noch in Alexandra Leclères dramatischer Komödie „Zwei ungleiche Schwestern“ (fd 37 194) als die lebendigere von zwei Schwestern überzeugte, schlüpft hier als Madame Fouchécourt gleichermaßen selbstverständlich in die Rolle ihres damaligen Widerparts: die einer nach außen kontrollierten Karrierefrau. Und auch Déborah François brilliert als Mélanie in einer Rolle, die im Vergleich zur naiven Kindfrau Sonia aus „L’enfant“ (fd 37 333) in kaum einem größeren Gegensatz stehen könnte – zumindest auf den ersten Blick. Gelegentlich aber lässt Dercourt hinter der Fassade der schweigsamen, geheimnisvollen und von Rachegelüsten besessenen Schönen jenen unbekümmerten Teenager aus dem Sozialdrama der Brüder Dardenne wieder aufblitzen. So zum Beispiel, wenn Mélanie zufällig auf einen Freund trifft, mit dem sie kichernd zu flirten beginnt. Hier durchbricht Mélanies normales Leben die Inszenierung ihrer Rache. Freilich nur für flüchtige Momente. Die meiste Zeit über belauern sich Ariane und Mélanie gegenseitig. Sie tauschen vielsagende Blicke aus und kreieren so ohne viele Worte eine latente erotische Spannung, die den Film über weite Strecken wie eine moderne Variante von Peter Webbers „Das Mädchen mit dem Perlenohrring“ (fd 36 674) erscheinen lässt. Die berufliche Beziehung der beiden Frauen wird bald von einer fast greifbaren wechselseitigen körperlichen Anziehung überlagert. Stets schwingt dabei aber auch eine unterschwellige Aggression mit. Auf fesselnde, sinnliche Weise inszeniert Dercourt in „Das Mädchen, das die Seiten umblättert“ die schleichende Erotik der Bedrohung.
Kommentar verfassen

Kommentieren