Die Demontage der Kokerei Kaiserstuhl im Ruhrgebiet durch chinesische Arbeiter, die den hochmodernen, aber unrentablen Betrieb dem Reich der Mitte zuführen sollen, steht im Mittelpunkt des spannenden, ebenso klug wie mitunter listig montierten Dokumentarfilms. Dabei geht es ihm weniger um den Arbeitsprozess als um das Aufeinandertreffen zweier scheinbar unvereinbarer Mentalitäten, wobei er in ironischer Form die Kehrseite der Globalisierung am konkreten Beispiel des hoch entwickelten Standorts Deutschland beschreibt. (Teils O.m.d.U.)
- Ab 14.
Losers and Winners
Dokumentarfilm | Deutschland 2006 | 100 Minuten
Regie: Ulrike Franke
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Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2006
- Produktionsfirma
- filmproduktion loekenfranke
- Regie
- Ulrike Franke · Michael Loeken
- Buch
- Ulrike Franke · Michael Loeken
- Kamera
- Michael Loeken · Rüdiger Spott
- Musik
- Maciej Sledziecki
- Schnitt
- Guido Krajewski
- Länge
- 100 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 0; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 14.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Diskussion
In den Chefetagen großer, meist börsennotierter Konzerne und auf dem Börsenparkett selbst graust man sich seit geraumer Zeit vor „Heuschrecken“, nach deren Einfall ausgebrannte Firmen zu beklagen sind – eine Geschäftspolitik, die meist auf dem Rücken der Mitarbeiter ausgetragen wird, um die Gewinnmargen zu sichern. Auf der Kokerei Kaiserstuhl im Ruhrgebiet fürchtet man sich vor „Ameisen“. Die wurden Anfang des Jahrzehnts immer mehr, kamen aus dem Reich der Mitte, trugen Blaumänner und machten sich mit dem sprichwörtlichen Fleiß besagter Insekten daran, das Werk, immerhin die modernste Kokerei der Welt, Stück für Stück zu zerlegen und ihrem Riesenreich, China, in Containern zuzuführen. Die Kölner Filmemacher Ulrike Franke und Michael Loeken, denen unter anderem der wunderbare „Renate Kern“-Dokumentarfilm zu verdanken ist („Und vor mir die Sterne“, fd 33 224), beobachteten die Demontage über einen Zeitraum von eineinhalb Jahren, wobei sie nicht nur entspannend leidenschaftslos mit dem technischen Aspekt dieser gigantischen Aufgabe umgehen, sondern sich, sowohl den Erkenntnis- als auch den Unterhaltungswert ihre Dokumentarfilms fördernd, auf die (zwischen-) menschlichen Bereiche der deutschen und chinesischen Arbeiter konzentrieren und Erstaunliches vor die Kamera bekommen.
Das anfängliche Unbehagen der deutschen, bald in Abwicklung befindlichen Arbeiter schlägt in eine Art Selbstschutz um, in so etwas wie heimliche Freude, als sich der Glaube verbreitet, dass die Chinesen das Werk nie wieder aufgebaut bekämen. Die geben sich überaus selbstbewusst und vertrauen den Fähigkeiten ihrer Genossen Ingenieure, die binnen kurzer Zeit mehrere Werke „klonen“ werden, schließlich hat man das „Know-how“ mitgekauft. Als die Deutschen auf Arbeitssicherheitsvorschriften pochen – schließlich kann Strom nicht von jedem verlegt werden, drei Alu-Leitern dürfen nicht mit Draht zu einer Mega-Leiter verbunden werden, und warum gibt es Formulare für eine Schweißgenehmigung, wenn diese nicht beantragt werden? –, reagieren die Gast-Demonteure zunächst etwas genervt, verabschieden aber dann im Plenum ein Zwölf-Punkte-Programm, das dem deutschen Arbeitsschutz ebenso Rechnung tragen will wie dem chinesischen Nationalstolz und der dortigen (Arbeits-)Ethik. Kurz: die Chinesen passen sich an wie Fische im Wasser, das hat der große Vorsitzende Mao schließlich gefordert, von dem auch der zitierte Ausspruch stammt, dass bei der Revolution Arbeiter auf der Strecke bleiben.
Im vorliegenden Film hat man allerdings den Eindruck, dass es zumindest in diesem Fall der deutsche Arbeiter ist, der auf der Strecke bleiben wird. Während die Chinesen mit reichlich Alkohol und noch mehr Zigaretten ihr Neujahrs-Fest feiern, messen deutsche Arbeiter ihren Blutdruck und zittern dem Ende ihrer Arbeit entgegen, wenn die Demontage ihrer Anlage jeden Tag einen noch weiteren Blick auf das Umland freigibt. Den Reiz des Films und auch die einer klugen Montage geschuldete Ironie machen die direkte Engführung zweier Mentalitäten aus, die scheinbar widersprüchlicher nicht sein könnten. Während die deutschen Arbeiter mit traurigen Blicken der Vergangenheit nachhängen, wiegeln die Vertreter des Tigerstaates, der sich nach seiner Krise wieder gefangen hat und sich nun ein neues Filetstück einverleibt, ab; man müsse keine Angst haben, man wolle die Deutschen nicht überholen, sondern einholen – vielleicht in 100 Jahren. Doch diese Aussagen des chinesischen Projektleiters, der schon zuvor durch seine überaus blumige Sprache aufgefallen war und Weisheiten wie „das Meer des Lernens kennt keine Ufer“ vom Stapel ließ, werden durch Aussagen wie „Arbeitseinsatz ist wie Krieg“ irgendwie relativiert. Eine ganz besondere Note erhält der ernste, aber auch durchaus erheiternde Dokumentarfilm, als die Chinesen mit ihrem Plansoll ins Hintertreffen geraten, Überstunden leisten und über die Deutschen, die pünktlich Feierabend machen, fluchen. Hier bekommt das Szenario einen wirklich bizarren Touch.
Formal auf den ersten Blick schlicht, entfaltet der Film seinen Hintersinn erst nach und nach; er geht sein Sujet nicht verbissen an, sondern erzählt in ruhigen Bildern eine nahezu aberwitzige Geschichte und bringt vieles auf den Punkt, was hierzulande politisch und gewerkschaftlich unter den Nägeln brennt. Wenn man dann im Rollabspann auch noch erfährt, dass die chinesischen Kokereien satte Gewinne einfahren, der Koks-Preis weltweit gestiegen ist und man im Ruhrgebiet plant, eine neue Kokerei aufzubauen, dann träumt man vom (Arbeits-)Urlaub am Ufer des Meeres des Lernens.
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