Dokumentarfilm über einen Bauabschnitt des Drei-Schluchten-Staudamms in China, einem höchst umstrittenen Projekt, das 2009 abgeschlossenen sein soll und in dessen Verlauf knapp zwei Millionen Menschen zwangsumgesiedelt werden. Obwohl sich der Film jeder Kommentierung enthält, spricht aus jedem Bild die Missbilligung der Autoren, die den skrupellosen Umgang mit Menschen, Landschaft und Kulturgütern anprangern. Der parteiische Film unterstreicht, wie wenig im technisch und wirtschaftlich boomenden Reich der Mitte ein Mensch und seine (Grund-)Bedürfnisse wert sind. (O.m.d.U.)
- Sehenswert ab 14.
Yan Mo - Vor der Flut
Dokumentarfilm | VR China 2005 | 150 Minuten
Regie: Yan Yu
Kommentieren
Filmdaten
- Originaltitel
- YAN MO
- Produktionsland
- VR China
- Produktionsjahr
- 2005
- Produktionsfirma
- Fan & Yu Documentary Studio
- Regie
- Yan Yu · Li Yifan
- Buch
- Yan Yu · Li Yifan
- Kamera
- Yan Yu
- Schnitt
- Li Yifan · Yan Yu
- Länge
- 150 Minuten
- Kinostart
- -
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Diskussion
Es gibt eine Szene in „Yan Mo“, die exemplarisch ist für den gesamten Film, die viel über sein Thema, seinen Tenor und die politisch-ästhetische Haltung der Autoren Li Yifan und Yan Yu verrät. Sie zeigt den Menschen in der Rolle des unbedeutenden Subjekts, wie er sie in den Augen der chinesischen Zentralregierung zu spielen scheint. Es ist die Szene, in welcher ein alter Herr vorsichtig den rutschigen Lehmhang unter einer mächtigen Betonbrücke hinabsteigt. Langsam klettert er herab, vorbei an notdürftig mit rot-weiß-blauen Plastikplanen und Holzpflöcken errichteten Unterkünften, bis er hinter einem der riesigen Stützpfeiler und somit aus dem Bild verschwindet, sich gewissermaßen auflöst. Mit einem fast unmerklichen Schwenk verfolgt die Kamera seinen Weg, beobachtet ihn von oben, bleibt auf Distanz. Der alte Herr ist auf der Suche nach einer neuen Behausung; seine alte, die er zugleich als Herberge führte, wurde überschwemmt.
Li Yifan und Yan Yu dokumentieren in „Yan Mo – Vor der Flut“ die Zwangsumsiedlung der 50.000 Einwohner der Stadt Fenjie zugunsten des weltweit größten Energieprojekts, des Drei-Schluchten-Staudamms in China. Die beiden Journalisten aus dem nahe gelegenen Handelszentrum Congqing haben die drastischen Auswirkungen des Bauvorhabens über mehrere Monate vor drei Jahren verfolgt. 2009 soll die Talsperre fertig gestellt sein. Knapp zwei Millionen Menschen müssen umquartiert werden, dazu noch unzählige historisch bedeutende Orte. Bei diesem aus ökologischen und sozialen Gründen umstrittenen Projekt verliert das Leben eines Einzelnen scheinbar jeglichen Wert. Menschen werden genauso verschoben wie im Weg stehende Siedlungen, Felsen, Hügel und Wälder.
Unfähig, auf die Bedürfnisse des Volkes einzugehen, versuchen die von der Regierung eingesetzten Kader mit Planwirtschaftsrhetorik die Bewohner Fenjies abzuspeisen. Die „Haus-Lotterie“, bei der ihnen eine neue Unterkunft in einer Retortenstadt zugewiesen bekommen soll, gerät zu einer Farce. Laut krächzend ruft ein Stadtverwalter in einem großen Saal die Namen durch einen Lautsprecher aus, drei Mal hintereinander. Wer sich nicht meldet, gehe leer aus, droht er. Die meisten Stühle aber sind unbesetzt. Die geringe Teilnahme an der Lotterie läge sicherlich am starken Regen, erklärt der Beamte. Ein Grummeln macht sich im Saal breit, eine bedrohliche Stimmung ist zu spüren. Vereinzelt wagen sich Leute nach vorn, ziehen ein Los, verschwinden wortlos. Ein anderer schimpft auf die Regierung, einige trollen nach ein paar Minuten wieder von dannen.
Der alte Herr ist erst gar nicht erschienen. Zuvor ist er bei der Umsiedlungsbehörde vorstellig geworden und hat eine Entschädigung gefordert. Doch da er seine Hütte illegal errichtete, bekommt er keinen einzigen Yuan. Dass der Kriegsveteran sein Leben für Mao und gegen Korea aufs Spiel setzte, hilft ihm auch nicht weiter. Er versteht die Welt nicht mehr. Die Kamera verharrt und wartet ab, was als nächstes in dem engen Büro geschieht und was der Bittsteller tun wird. Er geht.
Geduldig und unaufdringlich beobachten Yan Lu und Li Yifan den Umbruch, genauer gesagt den Untergang der berühmten Dichterstadt. Ton und Geräusche nehmen sie direkt auf; Hupen und Straßenlärm ist immer wieder deutlich zu hören, genauso wie das typische, der weit verbreiteten Bronchitis geschuldete Spucken der Chinesen. Begleitende Musik oder gesprochenen Kommentar gibt es nicht; die Filmemacher vertrauen ganz der Aussagekraft der Bilder – was keinesfalls bedeutet, dass ihre Dokumentation nüchtern protokollarisch und objektiv ist. Mit ihren Aufnahmen nehmen sie eine extrem ablehnende Haltung zu dem Staudamm-Projekt ein und prangern den skrupellosen Umgang mit den von der Umsiedlung betroffenen Menschen an. Wenn Bilder zeigen, wie Hochhäuser in die Luft gesprengt werden, gar Kirchen in sich zusammenfallen, sich Arbeiter mit Hämmern und Sägen ans Niederreißen von Bauwerken, Wasser- und Stromleitungen machen und am Ende nur noch eine Ruinenlandschaft übrig bleibt, dann ist das mehr als eine bloße Bestandsaufnahme. Gleichzeitig liefern sie mit ihrer Dokumentation ein eindringliches Bild der chinesischen Gesellschaft, seiner in Armut lebenden Bevölkerung. Während sich das Land technisch und wirtschaftlich stetig weiter entwickelt, bleibt die Sozialpolitik auf der Strecke. Die mit der Kamera dokumentierten Nebensächlichkeiten verraten viel über den disparaten Zustand mancher Stadt oder Gemeinde. Gegessen wird in Aluminiumschalen; Brillen werden mit Klebeband geflickt; von angemessenen Unterkünften kann hier keine Rede sein.
Und dennoch: die Einwohner Fenjies lassen sich nicht so leicht vertreiben, schließlich ist es ihr Zuhause; sie harren aus, machen weiter, als ob nichts geschehen wäre. Doch dann kommen die Beamten wieder, kleben Zettel an die Mauern, die den baldigen Abriss verkünden. In roten Lettern wird unübersehbar jedes Haus markiert, das nicht mehr lange stehen wird. Schlamm und Wasser breiten sich aus, Fußböden werden überflutet. Gegen Ende des Films ist eine bezeichnende Szene zu sehen: Seit die Stromleitungen gekappt wurden, leben die Bewohner mit Kerzenlicht. Am Abend, wenn es dunkel wird, scheint es sacht im Wohnzimmer. Als eine Verwandte des alten Herrn zu Bett gehen will, nimmt sie eine Kerze mit, die ihr den Weg leucht. Langsam verschwindet die Dame im hintersten Winkel der kleinen Wohnung, das Licht wird schwacher und schwacher und verlöscht schließlich. Zurück bleibt ein dunkler, schwarzer Raum.
Kommentar verfassen