Zwischen Frankfurt/Oder und dem polnischen Slubice liegt der gleichnamige Fluss, der nicht nur West und Ost, sondern zwei Hemisphären trennt. In fünf fein gesponnenen Erzählsträngen erzählt der figurenreiche Episodenfilm von den Menschen und ihrem Alltag diesseits und jenseits der Grenze. Eine bravourös entwickelte und inszenierte Bestandsaufnahme bundesdeutscher Wirklichkeit, die die komplizierten sozialen und menschlichen Verhältnisse in kleine Geschichten und verschrobene Gesichter umsetzt. Die Nähe der Handkamera ermöglicht dabei eine mitunter schmerzhafte Unmittelbarkeit, wobei der Film trotz seines Realismus eine feine Balance zwischen drückender Schwere und leichteren Momenten wahrt. (teils O.m.d.U.; Kinotipp der katholischen Filmkritik)
- Sehenswert ab 14.
Lichter
Drama | Deutschland 2003 | 105 Minuten
Regie: Hans-Christian Schmid
1 Kommentar
Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2003
- Produktionsfirma
- Claussen + Wöbke Filmproduktion/ZDF/arte
- Regie
- Hans-Christian Schmid
- Buch
- Hans-Christian Schmid · Michael Gutmann
- Kamera
- Bogumil Godfrejów
- Musik
- The Notwist
- Schnitt
- Hansjörg Weissbrich · Bernd Schlegel
- Darsteller
- Ivan Shvedoff (Kolja) · Sergej Frolov (Dimitri) · Anna Janowskaja (Anna) · Sebastian Urzendowsky (Andreas) · Alice Dwyer (Katharina)
- Länge
- 105 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
- Genre
- Drama
- Externe Links
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Heimkino
Diskussion
Lichter gibt es in diesem Film viele – fast in jeder dritten Einstellung taucht eine Lichtquelle auf, wenn auch verhalten und meist in spürbarer Ferne. Doch kaum jemand scheint davon Notiz zu nehmen. Das gilt selbst für Zuschauer, die den Ausgangspunkt schon kennen: eine Gruppe ukrainischer Flüchtlinge, die auf einer Waldlichtung aus einem Lkw klettern und Richtung Berlin losgeschickt werden. Wenn sie Lichter am Horizont sehen, wären sie bald am Ziel, geben ihnen die Schlepper mit auf den Weg. Doch in dem Ort, den die Männer, Frauen und ein Säugling bis zum Einbruch der Dunkelheit erreichen, spricht man polnisch; statt der Spree fließt die Oder an Slubice vorbei, einer polnischen Kleinstadt in Sichtweite von Frankfurt/Oder. Von dort werfen zwar die Scheinwerfer der deutschen Grenzpolizei unruhige Schatten übers Wasser, die auf ihre Weise von den Schwierigkeiten erzählen, „illegal“, ohne offizielle Papiere, in den Westen zu gelangen. Doch ehe Enttäuschung oder Wut durchschlagen können, drängen sich bereits neue dubiose Gestalten auf, die für noch mehr Geld über den Fluss helfen wollen. Eine letzte Chance? Oder ein weiteres, vielleicht gefährliches Täuschungsmanöver?
Der Film folgt drei Erwachsenen der Gruppe bei ihren Versuchen, von denen es einer, Kolja, tatsächlich bis zum Potsdamer Platz schafft. Was ihm und den anderen widerfährt, nimmt unmittelbar gefangen, obwohl sich die Spannungsmomente in Grenzen halten. Doch die grobkörnige Handkamera vermittelt eine Nähe und Direktheit, die den Unterschied zwischen den Figuren und ihren Betrachtern zum Verschwinden bringt. Der Schulterschluss funktioniert auch deshalb, weil sich der Film nicht allein auf das Schicksal der Füchtlinge konzentriert, sondern in „Short Cuts“-Manier nicht weniger als 18 Hauptfiguren diesseits und jenseits der Oder in fünf komplexen Erzählsträngen handeln lässt. Das verlangt von Schnitt und Inszenierung ein hohes Maß an Konzentration und Zielstrebigkeit, was im Fall von „Lichter“ um so mehr Respekt verdient, als der Stoff aus lauter traurigen Geschichten von Stillstand und Scheitern besteht. Die Nagelprobe episodischer Filme, dass jede Figur augenblicklich wiedererkannt wird, wenn die Handlung neu auf sie zu sprechen kommt, bestehen Hans-Christian Schmid und seine Cutter bravourös. Deshalb wird man nicht nur mit Kolja und der deutschen Übersetzerin Sonja vertraut, die für den Grenzschutz arbeitet, dem psychischen Druck der Abschiebeverhöre aber auf Dauer nicht gewachsen ist und mit dem jungen Ukrainer gemeinsame Sache macht. Man lernt auch Beata kennen, die einst in Berlin studierte und mit Philip liiert war, jetzt aber als gehobene Amüsierdame mit guten Deutsch-Kenntnissen ihr Auskommen fristet. Als sich die beiden in Slubice zufällig wiedersehen, weil Philip seinen ersten Auftrag als Architekt realisieren will, flammen schmerzliche Erinnerungen auf. Die Wirklichkeit aber kennt kein Happy End. Von einem solchen wäre der kurzsichtige Matrazenhändler Ingo gar nicht weit entfernt, wenn er nur einmal richtig durch seine dicken Brillengläser schauen würde. Doch in seinem verzweifelten, tragikomischen Überlebenskampf ist er blind dafür, dass seine neue Aushilfe eine gestandene Persönlichkeit ist, die ihm nicht nur aus Mitleid zur Seite steht. Der vierte Strang handelt von einem proletenhaften Zigarettenschmuggler, seinen beiden Söhnen und einer Ausreißerin aus einem Erziehungsheim, die das Gefüge aus Gewalt und Unterwerfung auf die Probe stellt. Auf der polnischen Seite des Flusses schließlich hofft ein Taxifahrer, beim illegalen Grenzverkehr auch ein paar Dollar abzuzweigen, um seiner Tochter ein weißes Kommunionkleid kaufen zu können.
Die Handlungszeit umfasst knapp zwei Tage, aber einen wahren Kosmos an Beobachtungen, Schicksalen und Detailaufnahmen. Schmid führt damit eine Erkundung der bundesdeutschen Wirklichkeit fort, die in den letzten Jahren vornehmlich Berliner Regisseure wie Dresen, Roehler, Moore oder Kleinert begonnen haben. Neben einer eher unmodischen Aufmerksamkeit für die Ränder der Wohlstandsgesellschaft kennzeichnet diese Arbeiten eine Art „Ostverschiebung“: Das Land, in dem diese Filme spielen, grenzt nicht mehr primär an die Toskana oder die Seine, sondern entdeckt mit seinem eigenen Osten allmächlich auch dessen Nachbarn. Bei Schmid und seinem Mitautor Michael Gutmann ist diese – auch autobiografische – Wendung glücklicherweise gebrochen; der Selbsterkenntnis des Regisseurs, des Ost-West-Gegensatzes wegen von München nach Berlin gezogen zu sein, über eine polnische Putzfrau hinaus aber keine weiteren Kontakte ins Nachbarland geknüpft zu haben, stehen die nüchternen Fakten von Drogen, Schmuggel, Diebstahl, Prostitution und illegalen Grenzübertritten gegenüber. Beides fließt in „Lichter“ auf eine Weise zusammen, die den Film zu einer schmerzhaften Bestandsaufnahme werden lässt. Bezeichnenderweise verweigert er sich immer dort der Konkretion, wo es um die Symbolisierungen des Status quo geht: Die Lichtdome der großen Stadt irrlichtern lediglich in den Köpfen der Flüchtlinge, die kalte Oder ist kaum mehr als eine Metapher, der Bundesgrenzschutz fast unsichtbar; selbst das kapitalistische Objekt der Begierde, Philips Stahl-und-Glas-Entwurf für eine neue Fabrik, wird nur mit Worten beschrieben. Umso konkreter und plastischer entfaltet der Film dagegen das, was hinter all dem steht: die Hoffnung der Habenichtse, die ihre Leben aufs Spiel setzen, weil sie sich ein wenig mehr Auskommen versprechen; die Arroganz der Geschäftemacher, die seelische Not und die psychischen Kosten jener, die dem Ansturm der Besitzlosen wehren sollen; das kärgliche Dasein im Schatten der Grenze, im Niemandsland, das die Tagestouristen grußlos auf dem Weg ins billige Eldorado der polnischen Zahnärzte, Autowerkstätten und Huren passieren.
All das ist Thema des kunstvoll gesponnenen Episodenfilms, ohne dass auch nur eines plakativ ins Szene gesetzt würde. Man begegnet unzähligen kleinen Geschichten und Gesichtern, die von den Schwierigkeiten des Alltags entlang einer kontinentalen Schwelle erzählen. Die verschrobenen Physiognomien der Protagonisten prägen sich dabei auch deshalb so tief ein, weil es den meisten Schauspielern gelingt, ihre Figur mit ähnlicher Sorgfalt zum Leben zu erwecken, wie sie von den Autoren entworfen wurden. Wäre der Film nicht einer rauen Realität verpflichtet, aus der es für kaum jemanden ein Entkommen gibt, könnte man ihn fast unterhaltend nennen, weil er das mitunter tragikomische Ringen der Figuren in den Zuschauerraum verlängert. Wie lange die Autoren dabei an der Balance zwischen drückender Schwere und leichteren Momenten gearbeitet haben, lässt sich auch daran ermessen, dass am Ende nicht die Tristesse dominiert, obwohl zu Optimismus kein Anlass besteht. Bisweilen scheint die Wärme der titelgebenden Lichter doch ins Leben der kleinen Helden, auch wenn deren Glanz nur Augenblicke währt.