Reconstruction

Drama | Dänemark 2003 | 91 Minuten

Regie: Christoffer Boe

Ein junger Mann und die Frau eines wesentlich älteren Schriftstellers beginnen eine Affäre und beschließen, obwohl sie einander kaum kennen, gemeinsam fortzugehen. Ein kunstvoll verschachtelter Film mit Anleihen bei Traumspielen, vergleichbar mit den literarischen Werken des "nouveau roman", der mit Raum und Zeit jongliert. Der experimentierfreudige Debütfilm verdichtet sich zur kunstvoll verschachtelten Beschwörung einer verlorenen Vergangenheit, wobei er seine Epigonalität zum Thema macht.
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Filmdaten

Originaltitel
RECONSTRUCTION
Produktionsland
Dänemark
Produktionsjahr
2003
Produktionsfirma
Director's Cut/HR Boe & Co./Nordisk Film/TV2
Regie
Christoffer Boe
Buch
Christoffer Boe · Mogens Rukov
Kamera
Manuel Alberto Claro
Musik
Thomas Knak
Schnitt
Peter Brandt · Mikkel E.G. Nielsen
Darsteller
Nikolaj Lie Kaas (Alex) · Maria Bonnevie (Simone/Aimee) · Krister Henriksson (August Holm) · Nicolas Bro (Leo) · Ida Dwinger (Monica)
Länge
91 Minuten
Kinostart
-
Genre
Drama | Liebesfilm
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Diskussion
„Wir alle wollen die erste Nahaufnahme filmen, den ersten Kuss – die erste Träne fließen sehen. Doch die Realität ist anders. Der bloße Gedanke daran, ‘Ich liebe dich’ zu sagen, macht einen krank.“ Christoffer Boes Anmerkung zu seinem Debütfilm „Reconstruction“ ist der klassische Stoßseufzer des Zuspätgekommenen: Alles ist schon da gewesen, die Saat gesät, die Ernte eingefahren. Was bleibt einem nach 100 Jahren Filmgeschichte anderes übrig, als vertrockneten Früchten einen schöpferischen Tropfen abzupressen? Wer hinter Boes Klage Koketterie vermutet, liegt halbwegs richtig. Mit „Reconstruction“ erhebt er das Epigonale zum Programm und inszeniert sich selbst als versierten Jongleur geborgter Güter. Gleich zu Beginn lässt er einen jungen Mann um eine Straßenecke gehen, nur um sich gleich darauf zu korrigieren. Ein Erzähler retuschiert das Bild, fügt kommentierend hier und dort etwas hinzu und schickt den Protagonisten schließlich in eine literarisch-filmische Versuchsanordnung. Wie es bei derlei formalen Exerzitien Tradition ist, hält Boe gemeinsam mit seinem Co-Autor Mogens Rukov die erzählte Geschichte einfach und solide. Im Grunde geht es um ein Liebesdreieck, das sich zwar nach allen Seiten öffnet, zunächst aber sehr übersichtlich ist: Alex, der junge Mann, begegnet Aimee, die mit dem älteren Schriftsteller August verheiratet ist. Die beiden Jüngeren verabreden sich, schlafen miteinander und beschließen, obwohl sie nichts voneinander wissen, gemeinsam fortzugehen.

So einfach und zugleich so kompliziert: Schon das erste Treffen zwischen Alex und Aimee wird von Erinnerungsbildern durchschnitten – eine Erinnerung, wie es scheint, an eben diese Szene. Wo beginnt ihre Beziehung, wo endet sie? Immer wieder kehren die Figuren zu dieser Frage zurück, nur um sich in einer Endlosschleife aus Abschied und Begegnung zu verheddern. Die Wirklichkeit des Films wird zum Escherschen Labyrinth, in dem es kein Zentrum, aber viele Zugänge gibt: Vielleicht ist der Ehebruch nur eine Fantasie, mit der der Schriftsteller August seine Trennungsängste zu Literatur verarbeitet? Oder das Ganze ist Alex’ Projektion, denn schließlich wird seine Freundin Simone von derselben, nur unterschiedlich zurecht gemachten Darstellerin gespielt. Aimee wäre dann das gedankliche Konstrukt, mit dem er die Möglichkeit eines neuen Lebens ausprobiert. Eine dritte Variante führt zurück zur ersten Szene, in der Alex die ihm unbekannte Aimee anspricht und so tut, als würden sie sich schon lange kennen. Aimee geht auf den Flirt ein, und mit jedem Satz spinnen sie ihre fiktive Geschichte weiter. Später erscheint Alex die Welt dann buchstäblich verrückt: Wo einst seine Wohnung war, ist jetzt ein leerer Dachboden, und von seinen Freunden und Verwandten will ihn niemand mehr erkennen. Aus der Wirklichkeit, die er mit Aimee erfunden hat, gibt es für ihn kein Zurück mehr.

Keine dieser Varianten löst wirklich alle Rätsel auf, die sich in „Reconstruction“ stellen. Doch das scheint auch gar nicht beabsichtigt zu sein. Vielmehr hängt alles mit allem zusammen und bildet in schillernder Mehrdeutigkeit ein hermetisch abgeschlossenes Gebilde. Boes eindrucksvolles Erstlingswerk liegt damit ganz im Trend einer neuen, das Motiv der Zeit strapazierenden Experimentierlust. Wie Gaspar Noe in „Irreversible“ (fd 36 120) oder Michel Gondry in „Vergiss mein nicht!“ (fd 36 491) stellt auch er die Kontinuität von Zeit und Raum in Frage, um eine radikal verkürzte Geschichte zu erzählen. Der wesentliche Unterschied besteht gleichwohl darin, dass Boe durch den durchgängigen Bezug zur Literatur explizit auf seine Vorbilder und damit auf seine Epigonalität verweist. In der kunstvoll verschachtelten Beschwörung einer verlorenen Vergangenheit erinnert sein Film an die Werke des „nouveau roman“; vor allem an das medienübergreifende Werk von Marguerite Duras. Mit ihr teilt Boe auch das Gespür für Atmosphärisches, den träumerischen Einsatz von Musik und Kamera. Für die betörenden Bilder des Films hat Manuel Alberto Claro in Cannes den Kamerapreis gewonnen, und der Komponist Thomas Knak hat um klassische Werke wie Samuel Barbers „Adagio for Strings“ einen stimmungsvollen Klangteppich gewebt. „Ein wenig Magie“, hatte Boe zu Beginn angekündigt, „ein wenig Rauch, etwas Schwebendes. Aber es klappt nicht ohne die richtigen Zutaten: ein kleines Lächeln, ein Mann, eine schöne Frau. Und die Liebe.“ All diese Versprechen hält er ein, nur die Konsequenz aus seiner Vorrede bleibt er schuldig: „Alles ist Film. Alles ist konstruiert. Und trotzdem tut es weh...“ So weit, die Grenzen zwischen Versuch und Leben einzureißen, reicht Boes Talent nicht; rühren können uns seine Figuren letztlich nicht.

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