Der im Nordmeer vor sich hin rostende Flugzeugträger "Kiev", einst Stolz der sowjetischen Kriegsmarine, wird als Schrott nach China verkauft und abgeschleppt. Der Film dokumentiert das Ende des Schiffes und verdichtet sich zu einer Bestandsaufnahme der Zustände im postsozialistischen Russland, wobei eine kollektive Erinnerung ebenso aufschimmert wie die rückwärts gewandte Melancholie einer Nation. Hervorragend gestaltet, stellt der Dokumentarfilm ohne besserwisserischen Kommentar die opulenten Bilder in erhellende Zusammenhänge.
- Sehenswert ab 14.
Auf allen Meeren
- | Österreich/Schweiz/Deutschland 2001 | 90 Minuten
Regie: Johannes Holzhausen
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Filmdaten
- Originaltitel
- AUF ALLEN MEEREN
- Produktionsland
- Österreich/Schweiz/Deutschland
- Produktionsjahr
- 2001
- Produktionsfirma
- Navigator Film/Dschoint Ventschr//Peter Stockhaus Film
- Regie
- Johannes Holzhausen
- Buch
- Johannes Holzhausen
- Kamera
- Joerg Burger
- Musik
- Michael Palm
- Schnitt
- Michael Palm
Diskussion
Der stählerne Koloss, der im Hafen von Murmansk vor Anker liegt, war einst der Stolz der sowjetischen Kriegsmarine. Doch die glorreichen Zeiten des Flugzeugträgers „Kiev“ scheinen unendlich lange zurück zu liegen. 1994 stellte die russische Militärführung das 1972 vom Stapel gelaufene Schiff außer Dienst; seitdem dümpelte die „Kiev“ als schwimmender Schrott im Nordmeer vor sich hin, bis sich mit einem chinesischen Unternehmen ein Käufer für den nach Ende des Kalten Krieges nutzlos gewordenen Flugzeugträger fand. Der österreichische Dokumentarfilmer Johannes Holzhausen hat an Bord eines chinesischen Schleppers, der die „Kiev“ auf den Haken nahm, die letzte Fahrt des Schiffes begleitet. Aber sein Film ist weit mehr als der – allenfalls für Militärhistoriker interessante – Bericht vom unrühmlichen Ende eines Kriegschiffes. Vielmehr gelingt es ihm in beeindruckender Manier, anhand der Geschichte der „Kiev“ die Geschichte vom Zusammenbruch der Sowjetunion zu erzählen.
Zu Beginn des Films sieht man einen Mann mit seinem kleinen Sohn am Meer stehen und hört ihn von einem „Koloss der See, einer unbezwingbaren Festung“ schwärmen, „die einst auf allen Meeren fuhr“. Woraufhin der Knirps lapidar einwirft: „Kiev? Nie gehört.“ Eine kleine Spielszene, die bereits das Spannungsverhältnis deutlich macht, in dem sich der Film fortan bewegt: hier die Archivbilder und Erinnerungen ehemaliger Schiffsoffiziere an die ruhmreichen Zeiten, da der prosaische Alltag einer Gesellschaft im Umbruch und auf der Suche nach einer neuen Identität. Oder auch nur nach einem schnöden materiellen Auskommen. Fünf Männer, die ihr halbes Leben auf der „Kiev“ verbracht haben, lässt Holzhausen in ihrer neuen Umgebung erzählen, wie sie mit der radikal veränderten Situation zurecht kommen und noch immer auf der Suche nach einem Ersatz für jene Heimat sind, die einst dieses Schiff für sie war. Wobei die Geschichte von Nikolaj Bobrakov, dem letzten Kommandanten, fast tragikomische Züge hat: Als der Kapitän 1994 seinen Dienst antrat, war das Ende der „Kiev“ längst beschlossen; ihm blieb nur noch das Kommando über ein paar Matrosen, die das vor sich hin rostende Geisterschiff nach verwertbaren Teilen abzusuchen hatten.
Da Johannes Holzhausen bereits vor dem Verkauf des Schiffs an Bord drehen durfte, sieht man hier Rekruten auf dem riesigen Deck lustlos mal hier, mal dort eine Klappe öffnen und den Kapitän mit dem Schnitzen von Holzschiffen die Zeit totschlagen. Szenen, die durch die wabernden Nebelschwaden an der Polarmeerküste neben der allgegenwärtigen Melancholie eine geradezu surreale Note bekommen. Andere ehemalige Besatzungsmitglieder haben bei ihrem Abschied ein Teeservice oder eine zerzauste Fahne mitgehen lassen, die sie nun wie Reliquien hüten. Auch in den Öl-Gemälden eines offiziellen Marine-Malers scheint die Zeit der ruhmreichen Sowjetunion ebenso noch einmal wach zu werden wie in den grobköringen Ausschnitten aus – teils skurrilen – Propaganda- oder jenen Amateurfilmen, die Besatzungsmitglieder heimlich drehten. In den wehmütigen Erzählungen der ehemaligen Seefahrer verbinden sich private und kollektive Erinnerungen einer ganzen Nation. Wenn ein Ex-Kommandant der „Kiev“, der jetzt als Bademeister arbeitet, vergeblich versucht, die Uhr an seinem Strandhäuschen wieder in Gang zu setzen, transportiert die Szene weit mehr als das Bild einer defekten Uhr. Doch es gehört zu den Qualitäten des Films, dass er diese rückwärtsgewandte Melancholie regelmäßig mit Szenen von jenem chinesischen Schlepper kontrastiert, der die „Kiev“ um die halbe Welt nach China schleppt. Für dessen Besatzung, die sich mit Videos und Karaoke-Einlagen die Langeweile vertreibt, ist ihr Auftrag ein Job wie jeder andere und das ruhmreiche Schiff im Schlepptau lediglich ein Haufen Stahl. So ist „Auf allen Meeren“ ein in jeder Hinsicht herausragender Dokumentarfilm für die Kinoleinwand, der sich in seinen opulenten 35mm-Bildern auch die technische Faszination des gigantischen Kolosses zu Nutze macht, nicht mit Musik, sondern einem faszinierend collagierten Soundtrack aus Schiffsgeräuschen arbeitet, ohne jeden Off-Kommentar auskommt und dennoch zweifelsfrei beweist, dass auch (Kriegs-)Schiffe eine Seele haben können. Am Ende wartet der Film sogar noch mit einer echten Pointe auf. Denn die Chinesen wollen die ruhmreiche „Kiev“ keineswegs verschrotten, sondern haben damit ganz andere Pläne – wobei man hofft, dass die ehemaligen Besatzungsmitglieder des Schiffes davon nie erfahren mögen.
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