Harry meint es gut mit dir

Komödie | Frankreich 2000 | 117 Minuten

Regie: Dominik Moll

Die Urlaubsreise einer Familie gerät zum Horrortrip, als der Mann einen vermeintlichen Schulkameraden wiedertrifft, der ihm zwar aus einer finanziellen Klemme hilft, sich dann aber nicht mehr abwimmeln lässt. Immer mehr mischt sich der rätselhafte Mann in die Belange der Reisenden ein, wobei er schließlich auch nicht vor Gewalt zurückschreckt. Eine schwarze Komödie, die in einen Thriller mit Horrorelementen umschlägt, um mit bitterer Ironie den Triumph der familiären Idylle über die Widrigkeiten des Alltags zu feiern.
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Filmdaten

Originaltitel
HARRY, UN AMI QUI VOUS VEUT DU BIEN
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2000
Produktionsfirma
Diaphana Films
Regie
Dominik Moll
Buch
Dominik Moll · Gilles Marchand
Kamera
Mathieu Poirot-Delpech
Musik
David Sinclair Whitaker
Schnitt
Yannick Kergoat
Darsteller
Laurent Lucas (Michel) · Sergi Lopez (Harry) · Mathilde Seigner (Claire) · Sophie Guillemin (Prune) · Laurie Caminata (Sarah)
Länge
117 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Genre
Komödie | Thriller
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Heimkino

Verleih DVD
EuroVideo (1.78:1, DD5.1 engl./dt.)
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Diskussion
Ein Mann in der Krise. Schon in den ersten Sekunden wird klar, was mit Michel los ist. Ferienbeginn, doch keine Spur von Entspannung: Der Familienvater sitzt am Steuer, das Baby schreit, die ältere Tochter tritt ununterbrochen gegen den Sitz, auch seine Frau Claire ist überreizt und stichelt grundlos. Um all das herum Sommerhitze und zu viel Verkehr. Diese Situation braucht nicht mehr viel; es ist einer jener bis zum Zerreißen gespannten Augenblicke, in denen der kleinste Funke zum Ausbruch der Explosion genügt. Doch nichts passiert. Klaviermusik setzt ein, die Kamera zieht sich zurück, man sieht den Wagen von oben, die Autobahn verliert sich in dünnen abstrakten Linien. Es geht weiter, mal wieder, und die Familie macht Pause in der nächsten Raststätte. Doch kurz ist die Lebenskrise sichtbar geworden, in der Michel steckt: Der Druck wächst, das Geld reicht nicht für große Sprünge, enttäuschte Hoffnungen und Alltagsroutine klaffen immer weiter auseinander. Nichts Besonderes also. Trotzdem gut, wenn man da einen Freund hat. Auf der Toilette der Raststätte trifft Michel jenen Harry, der es, folgt man dem Titel von Dominik Molls zweitem Spielfilm (nach „Intimité“, 1993), so gut mit ihm meint: ein Reisender aus der Vergangenheit, die beiden kennen sich angeblich aus gemeinsamen Schultagen. Auch wenn sich Michel kaum erinnert, Harry weiß umso besser über den anderen Bescheid. Schon die erste Anekdote, in der er an die Handballverletzung erinnert, die Michel ihm einst zufügte, weist auf tiefere Verstrickungen hin, auf Michels grundsätzliche Schuldgefühle gegenüber sich und der Welt, bei denen ihm Harry, diese noch bestärkend, gerade recht kommt. Denn alles, was nun folgt, lässt sich auch als böse Fantasie Michels verstehen: wie Harry mit insistierendem Charme gerade noch innerhalb der Grenzen des bürgerlichen Anstands die junge Familie fast schon nötigt, ihn und seine Freundin ins Ferienhaus einzuladen, wie er sich mit freundlicher Anteilnahme in die intimsten Angelegenheiten einmischt und sich als breit grinsender, nervtötend aufdringlicher Eindringling entpuppt; wie er schließlich - fast in der Art eines brutalen Managementtrainers - Michel „perfektionieren“, sein „Bewusstsein verändern“ will. „Für jedes Problem gibt es eine Lösung“, lautet eine seiner Weisheiten, und bald wird klar, dass der schnelle und intelligente Harry bei ihrer Verwirklichung vor nichts zurückschreckt. Sergi Lopez spielt diese Figur großartig in einer Mischung aus Freundlichkeit und Dämonie, zögernder Beobachterhaltung und plötzlichem Umschwenken ins Gewalttätige. Manchmal erinnern seine Gesichtszüge deutlich an Robert Walkers Bruno, jenen Fremden in Alfred Hitchcocks Zug. Auch der drängte sich ins Leben eines ein bisschen zu naiven, zu passiven Mannes, der gerade eine schlechte Phase durchmachte - und auch jener schreckte selbst vor Mord nicht zurück. Doch sah man Bruno seinen Wahnsinn schnell an. Bei Harry tritt er erst ganz allmählich hervor. Erst als Michels Eltern dran glauben müssen, wird offensichtlich, welche Gefahr droht. Noch immer aber will Michel nicht wahrhaben, was auch er zu ahnen beginnt; und noch einmal spürt man, dass Harry auch nur ein Geist sein könnte, einer, der aus Michels Unbewusstem entstiegen ist, um dessen geheimste, nie eingestandene Gedanken zu materialisieren. Er solle doch den Tod der Eltern als Chance begreifen, rät ihm Harry, und zu schreiben anfangen, einen Traum, den er einst voreilig aufgegeben hatte. Doch nun ist Harry für Michel auch das Fleisch gewordene Schuldgefühl, dessen stete Anwesenheit unerträglich wird. Genüsslich inszeniert der Regisseur nach etwa der Hälfte des Films das Umschlagen der schwarzen Komödie in einen Thriller mit Horror-Touch. Immer wieder wird der Suspense durch bittere Ironie gebrochen, wobei Moll zum Teil sehr deutlich an Stilformen aus dem Kino Claude Chabrols anknüpft. Dabei beschränkt er sich im Wesentlichen auf die Perspektive der Hauptfigur, deren Verwirrung der Zuschauer teilen soll. Laurent Lucas verkörpert diesen Michel, der auch ein Spießer ist, facettenreich in seiner Ratlosigkeit und zunehmenden Nervosität. Doch „Harry meint es gut mit Dir“ ist nicht nur eine psychologische Studie über einen Mann in früher Midlife-Crisis. Über den individuellen Aspekt hinaus geht es auch um eine Familie in der Krise, um die Wirklichkeit hinter verlogenen Konstrukten à la „Family Man“ (fd 34 605) und ähnlichen „Weihnachtsfilmen“. Eindringlich wird ein Kampf am Abgrund gezeigt, und dieser Abgrund ist nicht in erster Linie ein ökonomischer. Er existiert in den Köpfen und besteht aus verlogenen Träumen, überzogenen Erwartungen, Schuldgefühlen und vor allem jenem Traum von Perfektion, den Harry in seinen Forderungen verkörpert. Darin ähnelt er einem modernen Sektenvertreter ebenso wie er eine Metapher für alle Selbstanklagen ist, mit denen Michel sich quält. Moll, der in ebenso kluger wie witziger, immer dezenter Form inszeniert, belegt damit, dass die Macht der Fantasie stärker sein kann als die Realität, und zeigt darin auch, dass Michel und Harry sich ähnlicher sind, als sie wahrhaben möchten. Auch die Familie, so lernt man, bietet vor den bösen Gedanken keinen absoluten Schutz. Oder vielleicht doch, am Ende. Da wird jenes ständig offene Loch im Garten, das Sinnbild für alle Probleme Michels, endlich zugeschüttet. „Harry meint es gut mit Dir“ handelt deshalb auch von der Wiederherstellung einer Idylle. Die Familie erweist sich als Bastion gegen den Eindringling, worin der Film nicht nur Hitchcocks „Verschwörung im Nordexpreß“ (fd 25 626), sondern auch Scorseses „Kap der Angst“ (fd 29 409) ähnelt, in dem ebenfalls die tödliche Gefahr für Mutter und Kinder aus der Vergangenheit des Vaters stammt. Die Strafe für Michels innere Schuld erfolgt nicht durch die Polizei, sondern durch Fortsetzung des Alltags, den endgültigen Abschied von allen Möglichkeiten, die außerhalb dessen liegen. Allerdings beherzigt die Hauptfigur am Schluss zumindest eine von Harrys Lehren: „Du solltest nicht versuchen, es allen recht zu machen.“
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