© IMAGO / Future Image (Saulė Bliuvaitė bei der Gala des Europäischen Filmpreises)

Nichts ist endgültig

Ein Gespräch mit der litauischen Regisseurin Saule Bliuvaite über ihren Film „Toxic“, über falsche Versprechungen in der Mode-Industrie und eine angstbehaftete Jugendzeit

Veröffentlicht am
22.04.2025 - 16:06:43
Diskussion

Die 1994 geborene litauische Filmemacherin Saulė Bliuvaitė gewann 2024 mit ihrem Spielfilmdebüt „Toxic“ in Locarno den „Goldenen Leoparden“ sowie den Preis der Ökumenischen Jury. In dem Film (ab Donnerstag im Kino) geht es um zwei Teenager-Mädchen, die in einer litauischen Industriestadt dem Ruf einer Modelschule folgen, um der Tristesse ihrer Herkunft zu entfliehen. Doch ihnen stehen schwere Herausforderungen bevor. „Toxic“ ist ein schonungsloses Drama über das Erwachsenwerden, über manipulative Mechanismen und patriarchale Strukturen.


Sie sind in Kaunas aufgewachsen, wo Sie teilweise auch gedreht haben. Auch Ihnen wurde eine Modelkarriere in Aussicht gestellt. Wie war es für Sie, an diesen Ort zurückzukehren?

Saulė Bliuvaitė: Ich habe nie aktiv gemodelt. Osteuropäische Mädchen wurden in meiner Jugendzeit gerne gescoutet. Wenn man groß und dünn war, sagte einem quasi jeder, dass man es wenigstens versuchen sollte. Ich bin damals zu Castings gegangen, um mit Freundinnen Zeit zu verbringen. Ich tauschte mich mit einigen, die wirklich Model werden wollten, über ihre Erfahrungen aus. Die Szene in „Toxic“, in der man eine Schwangere sieht, die gerade aus New York zurückgekehrt ist, basiert auf der Geschichte einer Freundin. Ich habe das fast Wort für Wort genauso umgesetzt. Sie war damals 18 Jahre alt. Mich hat die Agentur, die sie nach New York gebracht hat, auch kontaktiert, als ich in ihrem Alter war. Das war eine zwielichtige Angelegenheit. Man konnte über die Agentur im Internet fast keine Informationen finden. Im Vertrag stand dann, dass die Agentur keine Verantwortung für das übernimmt, was mit einem dort passiert. Ich habe aus Angst nicht unterschrieben. Im Film wollte ich diese Schattenseite des Modelns unbedingt zeigen. „Agenturen“ oder „Modelschulen“ nutzen diese Titel, um legitim zu wirken. Aber insgeheim verfolgen sie eine ganz andere Art von Business, das viel weniger transparent ist.

In „Toxic“ sind die Mädchen minderjährig. Trotzdem sind die Eltern fast nicht involviert.

Bliuvaitė: Ich habe mich von dem Dokumentarfilm „Girl Model“ (2011) von David Redmon und Ashley Sabin inspirieren lassen. Darin reist ein Modelscout mit der Transsibirischen Eisenbahn durch gottverlassene Städte, um Castings durchzuführen. Es kommen vor allem junge Mädchen und ihre Mütter, die über ihre Hoffnungen und Träume sprechen. Sie glauben, dass sie ihren Töchtern nicht das bieten können, was diese verdienen. Ich habe das als Teenager auch so erlebt, dass Menschen aus Europa oder der USA so auftraten, als wüssten sie, wie man in der Welt zurechtkommt. Und als könnten sie einem etwas bieten, nur weil sie Geld hatten. In „Girl Model“ sieht man eine Mutter, die nur das Beste für ihre Tochter möchte. Sie tut wie der Vater von Kristina in meinem Film alles, um sie zu unterstützen. Sie begreift nicht, dass die Agentur ihr nicht das geben wird, was sie für ihr Kind erwartet. Man kann ihr das nicht mal zum Vorwurf machen. Die Liebe ist da. Doch das Verständnis, was wirklich passiert, fehlt.

Verfall und Träume: Szene aus „Toxic“ (© Akis Bado/Grandfilm)
Verfall und Träume: Szene aus „Toxic“ (© Akis Bado/Grandfilm)

Man findet Freundschaft an den ungewöhnlichsten Orten. Anfangs prügeln sich Kristina und Marija in „Toxic“ um ihre Lieblingsjeans, werden dann aber Freundinnen. Wie beschreiben Sie die Dynamik zwischen Kristina und Marija?

Bliuvaitė: Ich wollte dieses besondere, irgendwie aber auch eigenartige Band zwischen Teenagern zeigen. Man macht alles zusammen, weiß alles voneinander und schläft beieinander. Kristina und Marija erleben alles gemeinsam. Kristina ist sehr selbstsicher. Sie weiß stets, was sie will, und vor allem, wer sie ist. Sie versucht immer, cool zu sein und alles unter Kontrolle zu haben. Aber man sieht sie auch in Momenten, in denen sie sehr verletzlich ist. Marija ist sich nicht so sicher, wen oder was sie eigentlich mag. Die Beziehung der beiden ist speziell, weil sie irgendwann an einen Punkt gelangen, wo nicht mehr klar ist, in welcher Art von Beziehung sie zueinander stehen. Ist es nur Freundschaft oder haben sie auch Gefühle füreinander? Von Marijas Seite her sieht man, dass sie sich da nicht sicher ist. Kristina zieht sie mit in Situationen hinein, wo sie sich mit jungen Männern treffen. Aber vielleicht will Marija das gar nicht. In einer Kritik habe ich etwas von „erzwungener Heterosexualität“ gelesen. Das ist ein interessanter Gedanke. Zu meiner Zeit hat man darüber nicht nachgedacht.


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Beim Titel „Toxic“ liegt der Gedanke an „toxische“ Männlichkeit nahe. Die beiden Hauptfiguren sind im Film nicht davor geschützt. Welche persönliche Situation haben Sie in den Film eingebracht?

Bliuvaitė: Das bringt es auf den Punkt, was ich vermitteln will. Manche messen den Szenen keine große Bedeutung zu, doch diese kleinen Details prägen das spätere Leben. Von all den „toxischen“ Momenten, die man im Film sieht, waren das die wichtigsten für mich. Ich beziehe mich auf Situationen, an die ich mich selbst erinnere, auf Gespräche über Situationen, Unsicherheiten und Ängste; im Grunde hatte man als Teenager große Angst vor Männern. Auch weil man von schlimmen Geschichten gehört hatte, in denen Männer einen ausnutzen und junge Mädchen zu sexuellen Annäherungen verleiten. Das passiert im Verborgenen. Darauf beziehe ich mich im Film. Eines der Mädchen „massiert“ einen Mann, den wir nie zu sehen bekommen.

Direkt neben meinem Wohnhaus wohnte ein Mann im obersten Stockwerk. Niemand wusste, was in seiner Wohnung geschah. Der Mann wurde von der Polizei verhaftet, dann aber wieder freigelassen. Einmal fand man einen kleinen Jungen, der nicht aus unserer Stadt kam, an einer nahegelegenen Bushaltestelle. Er konnte sich nicht erinnern, was passiert war. Vielleicht, weil er unter Drogen gesetzt worden war? Wir wussten es nicht. Generell herrschte damals eine Atmosphäre der Hilflosigkeit. Wenn es eine Messerstecherei gab, wurde das so hingenommen. Man musste immer wachsam sein und lernte, bestimmte Gegenden, Menschen und Situationen zu meiden. Keiner fühlte sich dafür verantwortlich, etwas dagegen zu tun. Erst jetzt habe ich realisiert, wie falsch das damals war.

Die Mädchen wachsen in einem rauen Umfeld auf. Verfallene Fabriken, Strommasten oder verlassene Baustellen ziehen sich durch den Film. Auch die Modelagentur wirkt kalt und leer. Wie wichtig war die visuelle Gestaltung durch den Kameramann Vytautas Katkus?

Bliuvaitė: Wir wollten den Ort als eigenen Hauptcharakter miteinbeziehen. Erst hatte ich Angst, dass wir eine wichtige Emotion verpassen, wenn wir uns immer mehr von den Gesichtern der Hauptdarstellerinnen entfernen. Aber dann habe ich verstanden, dass die Emotionen sogar transparenter werden, wenn wir den Ort ins Bild miteinbeziehen. Alles war entscheidend: das Szenenbild, die Position der Kamera, das Licht, die Drehorte. Wir mussten eine Industriestadt aus Kaunas und Vilnius erschaffen, die es so in Litauen gar nicht gibt.

Kristina (Ieva Rupeikaite) und Marija (Vesta Matulyte) (© Akis Bado/Grandfilm)
Kristina (Ieva Rupeikaite) und Marija (Vesta Matulyte) (© Akis Bado/Grandfilm)

Es fehlt die Verspieltheit. Nur einmal kämmt Kristina eine Barbie-Puppe. Haben sich die Mädchen von ihrer Kindheit verabschiedet?

Bliuvaitė: Kristina versteckt ihre Spielsachen, um erwachsen zu wirken. Aber sie hat ein Bedürfnis danach, mit ihrer Barbie-Puppe zu spielen, einfach, weil sie noch ein Kind ist. Die Mädchen sind jung, aber sie fühlen sich wie Erwachsene. Es liegt ein immenser Druck auf ihnen. Sie sollen wichtige Entscheidungen treffen. Selbst ihre Eltern erwarten von ihnen, dass sie Geld verdienen. Ich wollte die Mädchen aber nicht in einem mädchenhaften Umfeld porträtieren. Sie leben nicht unbedingt einer rosafarbenen Welt, sondern wachsen in einem eher radikalen Umfeld auf; sie schmieren Zeichnungen an Wände, die nicht sehr mädchenhaft sind. Sie passen nicht in das Bild eines typischen „Mädchens“. In der Modelschule wird dagegen betont, wie Mädchen eigentlich sein sollen, um in der Welt akzeptiert zu werden.

Vilma, die Leitung der Modelschule, sagt zu Marija, dass Selbstvertrauen entscheidend sei. Sie scheint es wirklich ernst zu meinen.

Bliuvaitė: Vilma ist ein zweideutiger Charakter. Letztlich entpuppt sie sich als Betrügerin, aber sie gibt Marija etwas Gutes mit. Für Marijas Mutter ist ihre Tochter kein Model, weil sie humpelt. Damit setzt die Mutter harte Grenzen, was Marija durch ihr Handicap tun kann und was nicht. Für Vilma aber ist nichts vorab entschieden. Selbst wenn es komisch aussieht, wie Marija in den Modelklassen humpelt, schenkt ihr Vilma Hoffnung, indem sie sagt: „Du kannst alles machen, was du möchtest!“ Vilma behauptet, dass man jede Schwachstelle überwinden kann, auch wenn Marija es körperlich nicht schafft. Vielleicht hilft das Marija, Barrieren im Kopf zu überwinden. Deshalb ist diese Situation recht positiv, auch wenn sie in einem schwierigen Umfeld passiert.

Es gibt bekannte Modeltricks wie einen Wattebausch zu essen, damit man sich satt fühlt. Das ist nicht die einzige drastische Methode, auf welche die Modelanwärterinnen zugreifen. Aus der Vogelperspektive gesehen bewegen sie sich fast ein Tier, weil alle das Gleiche tun. Sind sie Getriebene?

Bliuvaitė: Die Mädchen fühlen sich in Bezug auf ihre Zukunft unsicher. Sie sind ängstlich. Ich wollte, dass sie in ihren Bewegungen wie ein Bandwurm wirken, der die Mädchen buchstäblich von innen heraus auffrisst. Man sieht ihn nicht, aber so konnte ich ihn doch in einigen Szenen zeigen.

Wenn die Mädchen gemeinsam tanzen, nehmen sie keine natürliche Körperhaltung ein. Warum diese Seltsamkeit?

Bliuvaitė: Wir haben diesen etwas animalischen, seltsamen Tanz so gestaltet, dass es sich unangenehm anfühlt, den Mädchen dabei zuzusehen. Es war eine interessante Erfahrung, diesen Tanz mit den Schauspielerinnen zu kreieren, weil die davon ausgegangen sind, dass sie dabei hübsch, sehr sinnlich und sanft wirken müssten. Ich glaube, dass die Mädchen es geliebt haben, einmal ganz anders zu tanzen und dabei zu erleben, dass es total in Ordnung ist, sich auch anders zu bewegen. Manchmal ist man eben nicht sinnlich, hübsch oder angenehm anzuschauen. Dieser Tanz ist wie ein hässliches Outfit, das die Mädchen anprobieren – eine Art Spiel für sie selbst.

Für den Film wurde eine Industriestadt „erschaffen“ (© Akis Bado/Grandfilm)
Für den Film wurde eine Industriestadt „erschaffen“ (© Akis Bado/Grandfilm)

Letztendlich wachsen die Mädchen in „Toxic“ durch all diese Erfahrungen.

Bliuvaitė: Die Figuren durchleben harte Zeiten, aber sie halten zusammen. Sie halten sich aneinander fest und gehen dadurch nicht verloren. Sie haben sich entschieden, wieder Kinder zu sein, gemeinsam unbeschwert Basketball zu spielen und vielleicht später etwas ganz anderes zu machen. Diese Transformation führt uns durch das ganze Leben. Ich mag den Begriff des Erwachsenwerdens nicht. Diese Verwandlung passiert nicht nur in den Teenagerjahren, sondern ein Leben lang. Man kann erwachsen werden, wenn man wie ich 30 Jahre alt ist, man kann aber auch erst mit 80 Jahren erwachsen werden.

Wir sehen in „Toxic“ ein Taxi, das den ganzen Film über nirgendwohin fährt. Dann kauft jemand das Auto. Am Ende wird es zum Auto eines verrückten Mannes, der mit ihm einfach wild im Kreis herumfährt. Dieser Glaube an Verwandlung gibt mir Hoffnung. Trotz aller Härte wollte ich zeigen, dass es immer irgendwie weitergeht. Was auch passiert: Nichts ist endgültig.

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