© France 2/IFFSS 2024 ("Quand vient l'automne" von François Ozon)

Momente der Wahrheit: Aus der SIGNIS-Jury von San Sebastián

Ein Bericht über die Suche der SIGNIS-Jury beim Filmfestival San Sebastián nach dem wichtigsten Film

Veröffentlicht am
10. Oktober 2024
Diskussion

Bei fast allen großen Filmfestivals der Welt gibt es immer noch kirchliche Jurys, die wichtige Filme aus dezidiert christlichen Augen heraus würdigen. Beim 72. Festival in San Sebastián diskutierte die SIGNIS-Jury am Ende über vier Filme, die auf packende Weise von menschlichen Nöten, Sorgen und Hoffnungen erzählen.


Bei der feierlichen Abschlussgala des 72. Filmfestivals in San Sebastián (20.-28.9.2024) vergab die Internationale Jury den Preis für das beste Drehbuch an François Ozon und Philippe Piazzo für ihren Film „Quand vient l’automne“. Der neue Film von François Ozon stand auf der vier Filme umfassenden Shortlist der SIGNIS-Jury, zu der auch „Los destellos“, „Last Breath“ und „On Falling“ zählten.

„Quand vient l’automne“ handelt von zwei älteren Frauen. Michelle (Hélène Vincent) und deren langjährige Freundin Marie-Claude (Josiane Balasko) verbringen ihren Ruhestand in einem burgundischen Dorf. Michelles Tochter Valérie (Ludivine Sagnier) lebt mit ihrem Sohn Lucas (Garlan Erlos) in Paris; der Sohn von Marie-Claude sitzt zu Beginn des Films noch eine Gefängnisstrafe ab. Michelle freut sich auf einen längeren Besuch ihres Enkels, doch dabei kommt es zum Eklat. Nach einem Spaziergang mit Lucas steht ein Rettungswagen vor der Haustür; Valérie wirft ihrer Mutter vor, sie mit Pilzen vergiften zu wollen. Die Tochter reist ab und nimmt Lucas mit. Michelle ist wieder allein.

Der Film kreist um die Ellipsen von (Un-)Schuld und Vergebung sowie um die Haltung und Praxis provozierender Liebe. So kommt Valérie nicht damit klar, dass ihre Mutter und deren Freundin früher als Prostituierte gearbeitet haben. Ganz im Gegensatz zu Vincent (Pierre Lottin), dem Sohn von Marie-Claude, der für beide Frauen eine Art Beschützerinstinkt entwickelt. Er wird von Valérie finanziell unterstützt, als er in dem Ort eine Bar eröffnen will.

Schon die ersten Bilder markieren den zentralen Kern des Films. Man sieht Michelle in einer katholischen Kirche und hört aus dem Munde des Priesters eine Stelle aus dem Lukas-Evangelium, das in der deutschen Einheitsübersetzung mit „Der Pharisäer und die Sünderin“ (Lk 7,36-50) überschrieben ist. Den Kern des Textes bildet das Gleichnis von den beiden Schuldnern und die Parabel vom großzügigen Geldverleiher. Diese werden von einem Lehrdialog zwischen Jesus und dem gastgebenden Pharisäer als auch von der Rahmengeschichte mit Hinführung und Ausdeutung gerahmt, die auf eine große Liebende verweist. Einige dieser biblischen Motive finden sich auch im weiteren Verlauf von „Quand vient l’automne“.


Fast wie im Zoo

Der Debütfilm „On Falling“ von Laura Carreira gewann überraschend den Preis für die beste Regie. Auf den ersten Blick strahlt dieser mutige Film ein großes Maß an Alltagsroutine und Tristesse aus. Es geht „um die Einsamkeit und die Entfremdung einer jungen Arbeiterin, die Tag für Tag in einem riesigen Logistikzentrum in Schottland unter schwierigsten Bedingungen schuftet“. Auch hier vermitteln die ersten Bilder einen nachhaltigen Eindruck. Nur mit Chipkarten lassen sich U-Bahn-Tore öffnen. Ein Scanner bildet die stete Verlängerung der menschlichen Hand, und ein Smartphone ist das einzige Gegenüber einer jungen Frau. Die heißt Aurora (Joana Santos), kommt aus Portugal und arbeitet von morgens bis abends als Pickerin. Wenn sie nicht zwischen Regalwänden voller Waren unterwegs ist, sieht man sie zumeist in ihrem Zimmer oder in der Küche ihrer Wohneinheit. Dort trifft sie auch auf einen jungen Polen, mit dem sie auch mal außer Haus geht. Als sie im Pub ihren Kopf an seine Seite legt, greift er zu seinem Smartphone – und sie kurz darauf zu ihrem. Sehr eindrucksvoll ist auch eine Szene, bei der ein kleiner Junge während eines Besuchs in dem Logistikzentrum Aurora ein Bonbon zuwirft, fast wie einem Affen im Zoo.

Joana Santos in "On Falling" (Sixteen Films)
Joana Santos in "On Falling" (© Sixteen Films)

Schließlich erweist sich Auroras größte Hoffnung als schmerzhaftester Punkt des Films. Denn bei einem Bewerbungsgespräch, mit dem sie der Melange aus Einsamkeit, Oberflächlichkeit und Leere zu entfliehen hofft, fehlen ihr die Worte. Auf Fragen nach Hobbys und Urlaub ist sie nahezu sprachlos; da gibt es nichts, auf das sie zurückgreifen und der Interviewerin erzählen könnte. Im Anschluss sieht man sie auf einer Parkwiese liegen, den Kopf auf dem Boden: aus, vorbei. Ein älterer Herr will sich um sie kümmern, doch sie lehnt ab, steht auf und geht davon.

Das Finale des fast sonnenlichtfreien Films findet im Logistikzentrum statt. Aufgrund einer technischen Störung stehen die Werkstätigen beieinander. Einige, unter ihnen auch Aurora, bilden einen Kreis und werfen sich gegenseitig einen Ball zu und nehmen so Beziehung zueinander auf. Wer denkt hier nicht an das Diktum des Theologen Johann Baptist Metz, dass die „kürzeste Definition von Religion: Unterbrechung“ lautet. Ein Hoffnungsbild, dass sich mitten in einer „Kathedrale des Neokapitalismus“ der homo laborans plötzlich auch als kreativer homo ludens erweist.


Als Tagestourist in der Sterbeklinik

Der jüngste Film des 91-jährigen Regisseurs Costa-Gavras, „Last Breath“, greift auf ein gleichnamiges Buch zurück, dessen Untertitel „Accompagner la fin de vie“ lautet. Es beinhaltet den Erfahrungsbericht des Palliativmediziners Claude Grange, der mehr als zwanzig Jahre lang hunderte Menschen an ihrem Lebensende begleitet hat. Anhand von Fallbeispielen und Einzelschicksalen kommen die Themen Sterbebegleitung und Sterbehilfe sowie assistierter Suizid in den Blick, aber auch unterschiedliche Reaktionen von Familienangehörigen.

Zu Beginn liegt der Intellektuelle Fabrice Toussaint (Denis Podalydès) in einer MRT-Röhre – und feiert im Anschluss mit seinem Bruder und den Ärzten einer Bostoner Klinik die positive Diagnose. Bei den Nachuntersuchungen in Paris kommt Toussaint aber in Kontakt mit dem Arzt Augustin Masset (Kad Merad), einer Koryphäe auf dem Gebiet der Palliativmedizin. Toussaint möchte mehr über Massets Arbeit erfahren, wodurch er als eine Art Tagestourist diskrete Einblicke in den Ablauf der Klinik und in die Psyche der Patienten erhält.

So bittet eine wohlhabende ältere Frau (Charlotte Rampling) darum, lebenserhaltende Maßnahmen zu vermeiden, wenn sie nicht mehr in der Lage sein sollte, eigene Wünsche zu äußern. Eine Roma-Matriarchin (Ángela Molina), die mit farbenfroher Entourage samt Musikern in die Klinik kommt, kehrt mit zwei Infusionen nach Hause zurück, die ihr ein schmerzfreies Sterben in gewohnter Umgebung ermöglichen sollen.

„Last Breath“ ist eine tiefgründige und keineswegs sentimentale Reflexion über das Ende des Lebens. Darüber, wie unheilbar Kranken ein würdiges, angst- und schmerzfreies Lebensende ermöglicht werden kann – durch medizinische Hilfe, durch menschliche Zuwendung, durch Respekt, Empathie und persönliche Nähe in allen Phasen und Momenten des Sterbeprozesses.

"Last Breath" von Costa-Gavras (KG Productions)
"Last Breath" von Costa-Gavras (© KG Productions)

Der episodenartige Film legt es nicht auf Spannung an, unterhält aber dennoch und schafft so Zugänge zu einem schweren Thema. Ein wichtiger Film angesichts der immer älter werdenden Gesellschaften in Europa sowie den Diskussionen rund um die Sterbehilfe. Aber auch ein hoffnungsvoller Film, wozu insbesondere die von Kad Merad gespielte Figur des Arztes beiträgt, dessen ruhige, freundliche Haltung gegenüber den Menschen viel dazu beiträgt, etwas über Leben und Sterben hinzuzulernen.


Begegnungen am Ende

Prämiert wurde von der SIGNIS-Jury am Ende der Film „Los destellos“ von Pilar Palomero. Er verbindet das Sterben eines Todkranken und innerfamiliäre Entwicklungen, Auseinandersetzungen und Klärungen. Treibender Motor der Geschichte, die auf der Erzählung „Un corazón demasiado grande“ der baskischen Autorin Eider Rodríguez beruht, ist eine junge Frau namens Madalen (Marina Guerola). Sie kommt für einige Stunden zu Besuch, um mit ihrem sterbenskranken Vater (Antonio de la Torre) Zeit zu verbringen. Der lebt seit etlichen Jahren getrennt von seiner Frau Isabel (Patricia López Arnaiz) mit seinem Hund in jener Wohnung, die lange Zeit das Zuhause der Familie war. Isabel hingegen wohnt seit der Trennung auf dem Land und kümmert sich dort um Haus und Garten sowie um die Vermietung von Gästewohnungen.

Bei ihrer Abfahrt bittet Madalen ihre Mutter, sich um ihren Ex-Mann zu kümmern und ihn regelmäßig zu besuchen. Das stellt Isabel vor eine unangenehme Aufgabe, da sie Ramón mittlerweile als Fremden betrachtet. Zögernd betritt sie die alte Wohnung und führt den Hund aus. Ramón schläft noch. Erinnerungen an früher werden wach und Ressentiments leben wieder auf, die Isabel als längst überwunden glaubte. Frühere Freunde kommen zu Besuch. Die Begleitung des unheilbar Kranken ermöglicht eine neue Sicht auf Altbekanntes, hilft aber auch, das Scheitern der Ehe mit anderen Augen zu betrachten. Infolge von Großzügigkeit und Empathie werden Menschlichkeit und Solidarität spürbar. „Ein leiser, zärtlicher Film über verdrängte Gefühle und das Abschiednehmen, ehrlich und unprätentiös“, heißt es in einer Kritik.

Pilar Palomero erzählt äußerst sensibel, ehrlich und zurückhaltend. Momente der Traurigkeit und der Bitterkeit wechseln mit Augenblicken flüchtiger Freude und flüchtigen Glücks. Auf diese Weise lädt der Film dazu ein, den letzten Tabus der westlichen Welt ins Gesicht zu sehen. Jede Falte im Gesicht von Ramón, jedes Lächeln auf den Lippen von Madalen, jede Träne in den Augen von Isabel eröffnet Einblicke in eine Welt, die sich dank Zärtlichkeit der Hoffnung und dem Leben zuwendet.


Die Streicher erheischen Aufmerksamkeit

Im Wettbewerb von San Sebastián lief auch der Film „Konklave“ von Edward Berger. Er basiert auf dem gleichnamigen Roman von Robert Harris und stellt einen Kardinal namens Lawrence (Ralph Fiennes) in den Mittelpunkt. Der leitet als Dekan das Konklave und versucht gleichzeitig, ein Geheimnis des verstorbenen Papstes zu lüften. In weiten Teilen zeigt der Film Ränkespiele und Machtambitionen von Kardinälen, die Konkurrenz von Traditionalisten und Erneuerern sowie das unauflösbare Nebeneinander von Weizen und Unkraut in der römischen Zentrale der Kirche. Man wird dabei den Eindruck nicht los, dass der Film für ein Massenpublikum in den USA gedreht wurde. Dort könnte es ein verstärktes Interesse geben, endlich zu sehen und zu hören, wie der Siegelring des verstorbenen Papstes zerbrochen oder dem Toten ein Seidentuch über das Antlitz gelegt wird.

Ralph Fiennes (l.) und Stanley Tucci in "Konklave" (Leonine)
Ralph Fiennes (l.) und Stanley Tucci in "Konklave" (© Leonine)

Die schauspielerische Leistung von Ralph Fiennes ist bestechend, die Nachbildung der Sixtinischen Kapelle imposant. Auch der Soundtrack nimmt für sich ein, wenngleich der effektheischende Einsatz von Streicherklängen nicht zu überhören ist. Am interessanten ist eine Rede des Dekans vor den versammelten Kardinälen. Hier ist in einer anregenden Weise von Glauben und Zweifel sowie vom Reichtum der katholischen Kirche aufgrund ihrer zahlreichen Glaubensausrichtungen die Rede. Eine Sequenz, die für die christliche Bildungsarbeit, aber auch für die Katechese und den Religionsunterricht an Schulen von höchstem Interesse ist.

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