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Deutschlandbilder - Thomas Heise

Ein Gespräch mit Thomas Heise Heises anlässlich des Kinostarts von „Kinder. Wie die Zeit vergeht“ am 10. Juli 2008

Veröffentlicht am
14. Juni 2024
Diskussion

Forschungsreise in deutsche Realitäten – als solche lässt sich das Gesamtwerk des Regisseurs Thomas Heise beschreiben. Seine Dokumentarfilme führen Menschen, Lebensumstände, Landschaften, historische Gegebenheiten genau und geduldig vor Augen und zielen immer wieder auf schwierige, ungemütliche Nervenpunkte herrschenden deutschen Selbstverständnisses. Heises jüngster Film „Kinder. Wie die Zeit vergeht“ kommt am 10. Juli 2008 in die Kinos.


Es gibt in „Kinder. Wie die Zeit vergeht“ einen Prolog, zu dem eine Kamerafahrt entlang einer gigantischen Raffinerie in Ostdeutschland gehört. Das Industriegebiet scheint unendlich, es ist nichts mehr erkennbar, was diesen Ort von anderen unterscheidbar macht. Im ganzen Film gibt es überhaupt nur eine Ortsangabe. Heißt das, die Bilder sind zugleich dokumentarisch und metaphorisch, zeigen ein kapitalistisches Europa, wie es in Zukunft immer mehr aussehen wird?

Thomas Heise: Ich sehe es so. Ich habe das dritte Mal in dieser Gegend gedreht. Zu Beginn der 1990er fuhr ich mit den Protagonisten meines Films „Stau“ am Gelände der damaligen Leuna-Werke vorbei. Wir drehten aus dem Zugfenster heraus: eine rostige Ruinenlandschaft mit Geschichte. Jetzt ist die gleiche Gegend eine völlig andere. Jetzt steht dort eine der modernsten Raffinerien Europas, in der stellt man das Kerosin für den Flughafen Leipzig her; der hat auch militärische Aufgaben, womit die politischen Dimensionen dessen klar sind, was dort passiert. Das ist das Eine, das Zweite: Fährt man an diesen nicht enden wollenden weißen Tanks vorbei, sieht man plötzlich auf einem der Tanks in riesigen Lettern das Wort TOTAL. Das ist nicht nur ein Firmenname. Das ist ein Programm. Heute sind dort keine Menschen mehr zu sehen, die dortigen Autobahnen sind nagelneu und leer. Ich kann nicht sagen, was das eigentlich bedeutet, ich sehe es. Ich sehe, dass da eine sehr starke Kraft wirkt, die den Menschen abschafft. Das ist unsere Zeit. In der geht es um Öl, Industrie, Effizienz und sonst gar nichts. In diesen Landschaften, wie um Halle herum, kann man dabei zusehen, wie man abgeschafft wird. Ein Vorausphänomen.

Warum ist Ihr neuer Dokumentarfilm in Schwarz-Weiß gedreht?

Thomas Heise: Als ich das erste Mal aus der DDR in den Westen kam, habe ich instinktiv alle Informationen dieser Umwelt aufgenommen, versucht, mir alles zu merken, nichts zu vergessen. Jede Botschaft, jedes Plakat, jeden Schriftzug, jedes Zeichen. Meine Aufmerksamkeit aus dem anderen kulturellen Zusammenhang war hier allerdings lebensgefährlich. Es war nicht auszuhalten. Ich habe lange gebraucht. In unserer Öffentlichkeit wird man von einander überschreienden Botschaften und Farben permanent angegriffen. Es ist notwendig nicht hinzusehen, nicht hinzuhören, sich abzuschotten, um nicht wahnsinnig zu werden. Das Schwarz-Weiß meines Films ist ein Versuch, das Gebrüll, das Grelle, aus dem Bild zu schieben. Nimmt man schwarz-weiß auf, funktioniert z.B. die im öffentlichen Raum platzierte bunte Werbung nicht mehr. Kontraste verschieben sich. Rot gibt es in Schwarz-Weiß nicht, es wird zu einem unauffälligen Grau und man kann wieder die Landschaft sehen, die es verdeckt hat, sieht viel genauer die Menschen in ihr, die Gesichter, den Ausdruck in ihnen.

Allein mittels der Bilder nähert man sich in Ihren Filmen Menschen, deren Wirklichkeiten sehr langsam an. Dem Publikum ist anheim gestellt, Schlüsse aus dem Gesehenen zu ziehen. Ist dies von Brecht beeinflusst?

Thomas Heise: „Alles, was Menschen in Bewegung setzt, muss durch ihren Kopf hindurch. Aber wie das geschieht, hängt sehr von den Umständen ab.“ Das ist aus „Barluschke“, aber von Friedrich Engels. Als ich mir jetzt altes, bisher nicht verwendetes Material wieder ansah, fiel mir auf, wie viel davon nicht auf eigenem Mist gewachsen ist, was ich von wem gelernt oder angenommen habe. Das ist nicht explizit Brecht, oft hat es was mit Heiner Müller zu tun, auch mit den Inszenierungen Fritz Marquardts. Es sind oft Formen, Methoden, die aus dieser Tradition kommen. Aber auch ganz andere Sachen, die offenbar mit prägen. Es hat mich immer interessiert, Denken in Bewegung zu halten, auch offen für Widersprüche zu sein. Ich gehöre in keinen Kreis, zumindest meinem Empfinden nach. Ich habe mich in sehr vielen ganz unterschiedlichen Kreisen gleichzeitig bewegt, gehörte aber nirgends ganz dazu, sondern habe mich meist an den Rändern bewegt. In den Zentren bin ich höchstens gelegentlich zu intensivem, kurzem Besuch, das ist auch heute so. Diese Distanz schafft möglicherweise einen entsprechenden Blick. Den versuche ich, in Film zu übersetzen. Das ist ein mir wichtiger Punkt: Kinozuschauern andere Positionen und Denkhaltungen zu ermöglichen, als es normalerweise der Fall ist.

Mit welchen Filmen und welchem Kinobewusstsein ist man in der DDR aufgewachsen? Hatten Kinobewegungen oder -debatten des Westens einen Einfluss?

Thomas Heise: Der Westen spielte eine Rolle, es gab Fernsehen und hin und her geborgte Bücher. Den ganzen neuen deutschen Film – Fassbinder, Kluge – kenne ich daher. Auch Godard. „One plus one“ habe ich im Fernsehen gesehen. Oder Viscontis „Die Verdammten“. Buñuel. Alles was ich kriegen konnte. Die Ansagerin verwies darauf, dass der Künstler den Film genau so gewollt habe und dass es durchaus auch anstrengend werden könnte, und dann ging es los. Manchmal wurde auch etwas erklärt. Zur Hauptsendezeit. Die Programme der 1970er, deren Qualität nie wieder erreicht wurde, verfolgte ich systematisch. Ich habe gelesen, was ich gekriegt habe, und rannte ins Kino Camera in der Oranienburger Straße. Dort lief Coppolas „Dialog“. Die Debatten, die Sie meinen, spielten keine Rolle, das ist mein Eindruck. Debatten hatte ich mit Dagmar Mundt, Peter Badel, Sebastian Richter, die später an der Kamera standen. Was viele Filme von damals auszeichnet: Sie sind voller Zweifel sich selbst gegenüber, stellen sich in Frage. Das bleibt.

Sie wurden 1955 geboren, sind vom Leben in der DDR geprägt, waren bei der Maueröffnung 35 Jahre alt. Mit welchen Hoffnungen oder Ängsten haben Sie das Jahr 1989 erlebt?

Thomas Heise: Ohne Ängste, mit Interesse. Erich Honecker war Januar 1989, glaube ich, in Westdeutschland. Meine Idee dazu war, er solle sofort um politisches Asyl bitten. Man hätte ihn dann dort nehmen müssen und auf dem Hals gehabt als politischen Flüchtling. Es hätte dadurch dann rasch sehr interessant werden können in der DDR, es hätte sie produktiv gesprengt. Insgesamt war es so: Die Titanic ging zunächst sehr langsam unter, unaufhaltsam, doch nicht gleich zu bemerken trotz der Schräglage, der Kellner kam noch, und dann jedoch ging plötzlich alles sehr rasch. Die DDR war schon 1987 pleite. Damals gab es zwischen DDR und BRD Kontakte zu einer möglichen Konföderation beider deutscher Staaten. Über den Untergang wurde geredet, man nahm es irgendwie an. Viele machten sich auf die Flucht, andere blieben. Wie bei einem angekündigten Unwetter, als Berlin einmal nach Regen und Blitzeis tief im Schnee versank und gar nichts mehr ging. Silvester 1979. Da standen die Leute erst frierend auf den S-Bahnsteigen, als plötzlich nichts mehr fuhr, auch keine Autos, sie standen herum, warteten und kamen nicht zu ihrer Party. Dann fingen sie an, auf den Bahnsteigen zu feiern, Sektkorken knallten, und alle fielen sich in die Arme. In der Scheiße ist es warm, hab’ ich von einem Kanalisationsarbeiter gelernt.

Waren Ihre Erwartungen realistisch in Bezug auf das, was dann gekommen ist?

Thomas Heise: „Imbiss – Spezial“, den ich in der Woche vor dem 7. Oktober drehte, endet mit einem Insert: „Aus Ideen werden Märkte – Deutsche Bank“. Dazu hört man die Nachrichten der „Aktuellen Kamera“ des DDR Fernsehens, die vermelden, dass Randalierer die Volksfeste zum 40. Jahrestag der DDR störten und republikfeindliche Losungen riefen und alle Rädelführer festgenommen wurden. Das war der einzig mögliche Filmschluss. Er war realistischer als ich ahnen konnte. Es ging ja zunächst nicht um eine Wiedervereinigung, schon gar nicht um Anschluss, sondern um etwas Drittes, einen Versuch, etwas Neues zu gestalten. Für diese Idee gab es eine romantische Abschlussfeier am 4.11. auf dem Alexanderplatz, die größte Demonstration in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Als die Parteibasis der SED sich auch nicht mehr führen ließ, sondern rebellierte, ihre Führung auspfiff und die Genossen stattdessen begannen, Ich zu sagen, offen zu reden, wurde die Mauer geöffnet. Ein letzter Versuch, per Kobolz an der Macht zu bleiben, sich anzubiedern, vielleicht auf neuem Posten zu überleben. Bei dem einen oder anderen hat es ja geklappt. 

Hermann Henselmann sagte den schönen Satz: Aus Kommunisten werden Kunden. Sieht, wer im Osten aufwuchs, deutsche Geschichte anders, als man es im Westen tut?

Thomas Heise: Das vermute bzw. erfahre ich so. Der unterschiedliche Blick hat damit zu tun, dass, wenn Du eingeschlossen bist, es Dich natürlich interessiert, was draußen passiert. Das schafft Aufmerksamkeit für das Andere. Dieses Andere ist lebensnotwendig, um das Gefangensein auszuhalten. Umgekehrt war für das Gros der Westdeutschen der Osten nicht relevant. Eine Steppe mit Eintritt, manchmal mit Zoo. Er war nicht notwendig für das eigene Leben. Geschichte wird heute oft aus der auf diese Weise begrenzten westdeutschen Perspektive erzählt, ein weites Feld. Es wäre erhellend zu wissen, wie viel Filme über den Osten von westdeutsch sozialisierten Kollegen gemacht wurden, und wie es umgekehrt ist. Ich denke, es gibt keine Chance für dieses Land, einen realistischen Blick auf sich selbst zu kriegen, wenn die deutsche Nachkriegsgeschichte nicht konsequent als gesamtdeutsche Geschichte behandelt wird.

Im Prolog von „Kinder.“ sieht und hört man eine allein erziehende Mutter aus Halle-Neustadt, die von ihrer Lebenssituation erzählt. In „Im Glück (Neger)“ begleitet man fünf Jugendliche über Jahre hinweg. Suchen Sie diese Menschen gezielt?

Thomas Heise: Die meisten Begegnungen, aus denen später Filme werden, sind zufällig. Insofern mache ich es wie in manchen Filmen Volker Koepp. Der stellt sich an den Wegesrand, und auf einmal fängt er mit denen zu sprechen an, die auf diesem Weg vorbeikommen. Das hat eher mit Warten zu tun als mit Hingehen. Wenn Leute spüren, dass man ihnen wirklich zuhört, erzählen sie ihre Geschichten. Rede ich mit jemandem und sitze neben der Kamera, übertragen sich Nähe und Intensität über die Kamera auf den Film, von dort auf die Kinoleinwand. Wie in „Im Glück (Neger)“, wenn einer der Jugendlichen einen Brief an seinen Vater, den er zwölf Jahre nicht gesehen hat, vorliest. Er steht in der Mitte seines Zimmers und liest. Man sieht, was alles in seinem Gesicht passiert, wie ihm beim Vorlesen bewusst wird, was er geschrieben hat. Es geht um Geld. Er droht seinem Vater und erklärt ihm seine Liebe. Er muss es tun. Es tut ihm weh. Dann setzt er sich, sitzt und schweigt. Man kann ihn über den Spiegel zusammengesunken sitzen sehen. Da ist nichts vorher überlegt, wir haben nichts besprochen, außer das Lesen des Briefs. Man sieht und begreift den Zusammenhang zwischen Liebe und Ökonomie. Kino heißt auch, dass man andere an den eigenen Empfindungen teilhaben lässt. Dann sind Filme stark. Manche denken, man ginge irgendwohin und hielte einfach die Kamera drauf. Das ist mitnichten so. In dem Moment, in dem Aufnahmen als Material zur Verfügung stehen, wird der Abstand dazu riesig. Man muss sich dann die Nähe dazu wieder erarbeiten.

So wie Komponisten wie Schönberg oder Luigi Nono das Schweigen zum Element der Musik machten, gibt es auch in Ihren Filmen lange Schweigemomente. Sie erscheinen mir als komponierte Momente des Verstummens angesichts der Trostlosigkeit unserer Realität.

Heise: Schweigen ist auch Sprache. Es ist nicht notwendigerweise ein Verstummen angesichts einer Trostlosigkeit, es kann auch Moment eines Einverständnisses sein, das keine Worte braucht. Film ist der Musik sehr nah, man erarbeitet eine Partitur. Tendenziell erschlagen Ton, insbesondere eine alles zuschmierende Musik, Kommentar, Effekte etc. immer mehr das Bild. Ich werde immer leiser, und die Bilder entwickeln eine andere Intensität, andere Momente kommen nach vorn. Das ist nicht neu, für mich dennoch immer wieder eine Entdeckung. In „Vaterland“ gibt es solche Momente, die eine Landschaft zeigen, die ja tatsächlich leise ist, still, in der Du irgendwann nur noch den Wind im Gras hörst, jedenfalls da, wo Landschaft noch nicht zur Herstellung von Produktivität herangezogen wird. Und der den Film mitfinanzierende Fernsehsender sagt dann, wir brauchen 20 Dezibel, denn in den Wohnzimmern der Zuschauer ist es nicht still genug, die Stille dieser Landschaft hören zu können.

In „Kinder. Wie die Zeit vergeht“ sieht man, wie an Grundschüler Bildungsempfehlungen ausgegeben werden. Einem der Jungen wird mitgeteilt, er bekomme keine Empfehlung. Er sackt vollständig in sich zusammen...

Thomas Heise: Er weiß, dass er ein Verlierer ist. Das wissen auch die Jugendlichen in „Im Glück (Neger)“. Sie wissen schon mit 14, dass das Leben im Grunde gelaufen ist. Es ist nicht ihre Entscheidung. Der Junge in „Kinder.“ weiß das mit zehn. Sieht man die Szene aufmerksam, merkt man, da stimmt etwas nicht. Wie der Junge sich anstrengt, nicht zu heulen, entspricht nicht den die Bildungsempfehlung bestimmenden Zensuren, welche die Lehrerin nennt. Sie sagt: „Du hast in Deutsch eine…“, Pause, und dann kommt „Drei“. 

Die Lehrerin zögert und schönt, weil die Kamera da ist. Man soll eine Idealversion von Realität geliefert bekommen.

Thomas Heise: Sie reagiert auf einen angenommenen Zuschauer. Auch um das Kind zu schützen vor einer vermeintlichen Bloßstellung. Was auffällt, egal, wo man dreht: Es geht den Leuten zunehmend um Absicherung. Keiner will selbst in die Verantwortung, in wie auch immer geartete Schwierigkeiten kommen. Erst recht bei solchen offiziellen Geschichten, auf Ämtern, in Schulen. Man agiert für einen angenommenen Zuschauer, der dieses oder jenes denken soll. Man inszeniert sein Bild und dieses schiebt sich vor die Realität, ist von der nur schwer zu unterscheiden. Es ist verrückt. Zuschauer interessieren mich nicht. Das heißt lediglich, dass ich meine Arbeit nicht auf einen anderen Blick hin ausrichten mag, ausschließlich auf meinen eigenen. Das finde ich einen ganz wichtigen Punkt, dass man auch in Dokumentarfilmen bei sich bleibt, erkennbar wird, von einer eigenen Position aus ruft oder antwortet.

 In der beschriebenen Schulszene sieht man nicht Politik, aber es werden die ungerechten Auswirkungen von Politik transparent.

Thomas Heise: Es sind Selektionsvorgänge. Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen. Und mich macht das Geschehen hilflos. Ich war an einem Punkt, an dem ich dachte, ich lasse das alles sein, ich mache jetzt einen Film über Bildung: Wie auch diese immer mehr privatisiert wird, den Marktgesetzen unterliegt und wie das auf Kosten der Kinder und Jugendlichen geht. Und auch der Eltern. Wenn ich erfahre, dass eine Empfehlung fürs Gymnasium in Sachsen bei Zehnjährigen allein aufgrund von zwei Zensuren vergeben wird, Mathematik und Deutsch, nichts sonst spielt eine Rolle… und dass ein Kind, wenn es mal eine kritische Phase, einen Durchhänger hat, aus welchen Gründen auch immer, dann ausgegrenzt ist. Im Grunde ist das ähnlich wie in der DDR. Wenn Du da einmal sitzen geblieben bist, egal warum, dann gab’s kein Abitur mehr. Damit war ein Teil der Zukunft dann erledigt.

Auf einer Tafel des Films steht: „Der Mund entsteht mit dem Schrei.“ Das ist aus Heiner Müllers „Germania. Tod in Berlin“, eine Passage, die auf Samuel Beckett anspielt. Passt der Satz zur Situation dieser Menschen, oder hat deren Wirklichkeit beckettsche Züge?

Thomas Heise: Beckett war Realist. Man kann es ganz direkt nehmen. Wie in der Szene, in der Tommi, Chris und ein Freund einen verkrüppelten Schneemann bauen und feststellen, dass der keinen Mund hat. Wie sie ja selber auch keinen haben, bis sie schreien. Es deutet sich momentan an, dass Streiks wieder Bestandteil des Alltags werden könnten. Dass in Berlin keine Bahn mehr fährt, und die Leute finden das in Ordnung, tragen das mit, das wäre vor fünf Jahren ganz anders gewesen. Möglicherweise gerät in unserer Gesellschaft etwas in Bewegung, gibt es wieder vermehrt Widerständigkeit.

Am Ende von „Im Glück (Neger)“ gibt es eine Videobotschaft von einem der Jugendlichen. Es ist eigentlich ein Nachruf auf sich selbst, von einem, der sich gesellschaftlich beerdigt fühlt. Gleichzeitig übt er Kritik an Ihnen. Inwiefern entspricht diese Kritik Ihren eigenen Zweifeln an Ihrem Filmunternehmen? 

Heise: Was nie wirklich in den Griff zu bekommen ist, ist die Balance zwischen Nähe und Distanz. Es bleibt immer ein Rest, der nicht aufgeht. Der Sven und ich hatten zusammen Theater gemacht, er war eines von etlichen Kindern in einem Stück am BE, und regelmäßig, wenn er Probleme hatte, meldete er sich bei mir wie bei einem größeren Bruder. Irgendwann wusste er nicht mehr, geht’s um den Film oder ist das jetzt privat, aber er konnte das nicht wirklich artikulieren. Ich konnte auch nicht mehr genau sagen, was ich meine. Also bat ich ihn: Schreib’ mir einen Brief. Er hatte eine Kamera und nahm das dann auf, das Bild ist von ihm. Es ist nicht alles gerecht, was er vorliest, aber er hat das Recht, das so zu tun. Darum geht es mir, dass man alles sichtbar macht, was in solchen Beziehungen gleichzeitig da ist, dass man von dem real vorhandenen Bündel von Empfindungen nichts wegnimmt.

Sie haben mit „Mein Bruder“ einen Film über Ihren älteren Bruder Andreas Heise gemacht, darüber, wie die DDR-Verhältnisse in Ihre familiäre Beziehung bis heute hineinspielen. Haben Sie lange überlegt, ob und wie man überhaupt einen solchen Film machen kann? 

Thomas Heise: Das musste sein. Wenn man Film auch als Dialogform beschreiben kann, dann musste ich diesen Film machen, weil wir so nach langer Zeit wieder ins Gespräch kommen konnten. Anlässlich eines jüdischen Fests, das meine Tanten in den USA ausrichteten – sie waren vor den Nazis aus Wien nach England geflohen; ein Teil der Familie hat in Berlin überlebt –, haben mein Bruder und ich uns getroffen und uns über das Leben unterhalten. Mein Bruder war schwer herzkrank, hatte mehrere Operationen hinter sich. Einem wie mir fällt dann natürlich ein, Aufnahmen herzustellen.

Nach und nach erfährt man, in welchen Verstrickungen die Personen miteinander sind. Der Freund, bei dem Ihr Bruder in Südfrankreich lebt, war Mitarbeiter der Stasi, der Sie jahrelang ausspioniert hat. Der Film scheint so etwas wie die Suche nach einer Sprache für dieses Geschehen.

Thomas Heise: Das ist eine gute Beschreibung. Wenn man sieht, wie mein Bruder und ich miteinander reden, erlebt man ja, wie wir versuchen, einen gemeinsamen Ton zu finden, das sind nicht wirklich Gespräche, ist mehr eine Stotterei. Mit dem Freund meines Bruders ist das ebenso.

Wenn Ihr Bruder erzählt, in welcher beruflichen Situation er in der DDR war, wie leicht auch er hätte Stasi-Mitarbeiter werden können: Sind das realistische Beschreibungen oder Rechtfertigungen?

Thomas Heise: In meinem Film „Eisenzeit“ erlebt man jemanden, der lange im Jugendknast war, weil er in der DDR „Keine Macht für Niemand“ an die Wand gesprüht hatte. Dessen Eltern waren Funktionäre, er wurde häufig geschlagen, alles war furchtbar. Ausgerechnet er sagt: Was es schwierig macht, ist nicht die Lieblosigkeit und Gewalt Zuhause, sind nicht die Verletzungen selbst, sondern vielmehr der Umstand, dass diese Folgen haben, die man nie los wird. Alles kommt immer wieder hoch. Und so verdrängt mein Bruder Andreas an vielen Stellen ganz bewusst. So ist dann auch sein Leben weit weg in Südfrankreich, sein Sich-Die-Welt-Schön-Saufen. Wenn er sagt, ich brauche über diese alten Zeiten nicht mehr zu reden, sind das auch Rechtfertigungen, Verdrängungsvorgänge. Die man aber auch braucht im Leben. Denn es ist wohl so, dass der Mensch nicht in der Lage ist, sich irgendetwas zu merken, ohne es dabei zu verändern. Die Voraussetzung für Erinnerung ist immer die Bearbeitung, die Verwandlung. Meine Form von Bearbeitung ist der Film. Nach der Arbeit an „Mein Bruder“ wurde mir einiges klar. Bei Micha, dem Freund meines Bruders, hat die Stasi-Tätigkeit ihren Grund wohl in einem schlichten Neid auf die Freiheit, die wir in unserer Akademikerfamilie hatten. Leute wie uns kannte er bis dahin nur als arrogante Feinde. Weil er mit meinem Bruder befreundet war, sie arbeiteten zusammen, war es für ihn möglich, mich zu bespitzeln; mein Bruder hatte sich damals einen anderen, einen ihm näher stehenden Bruder gesucht. Das war die Funktion von Micha. Eine brüderliche Beziehung aber kann so eine Geschichte, so einen Verrat eher aushalten, verarbeiten. Bei bloßen Freundschaften ist so etwas, glaube ich, viel stärker belastend. Man hört immer wieder: Gesellschaft, das sei ein System, es gäbe Strukturen. Meines Erachtens wird damit überhaupt nichts erkennbar. 

Gleicht Ihre filmische Arbeit nicht dem, was die Psychoanalyse Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten nennt?

Thomas Heise: Da würde ich sehr vorsichtig sein. Ich glaube, dass es Dinge gibt, die man machen muss, die erledigt werden müssen. Ob dies mit Psychoanalyse zu tun hat, weiß ich nicht. 1980 wollte ich einen Film machen über die zweite, die junge Generation in der ersten sozialistischen Stadt. Stalinstadt, dann Eisenhüttenstadt genannt. Für mich zeigte sich in diesem Generationenverhältnis die DDR-Geschichte. Die Eltern traten mit einer Utopie an, bauten das Haus und versteinerten darin. Dann ist das Haus eingerichtet und funktioniert, doch für die nächste Generation ist da kein Platz. Die wird nicht wirklich gebraucht und soll schon gar nichts verändern. Was den Jüngeren mit ziemlicher Brutalität deutlich gemacht wird. Es hat bis 1991 gedauert, dass ich diesen Film drehen konnte. Da hatten sich zwei meiner Protagonisten inzwischen umgebracht. So tauchen früher von mir thematisierte Dinge in späteren Arbeiten immer wieder auf, zehn bis 15 Jahre später. Dann können sie beerdigt werden. Ob das etwas mit der Frage zu tun hat, weiß ich nicht, und diese Beerdigungen sind auch nicht endgültig. Irgendwann wird wieder umgegraben.

Sie wollen nicht zu viel über Ihre Motivationen und Impulse wissen?

Thomas Heise: Nein, denn wenn ich’s weiß, muss ich’s nicht machen. Auch wenn der Film anfängt, am ersten Drehtag weiß ich nichts, und etwas Neues beginnt. Ich mache mir ein Bild, ein zeitweise verwendbares Weltbild.

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