Eigentlich wollte er dem familiär vorgezeichneten Leben
in der Filmwelt entkommen. Deshalb studierte Michael Verhoeven Medizin und
wurde Gehirnchirurg. Doch dann durchkreuzte ein Filmkuss seine Pläne. Seine
Filmpartnerin Senta Berger wurde seine Ehefrau, und er einer der aufrechtesten
und skandalträchtigsten deutschen Filmemacher. Wobei er mit seinen intensiven
Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus immer den Themen, nie dem
öffentlichen Aufruhr verpflichtet war.
Eigentlich wollte Michael Verhoeven
(13.7.1938-22.4.2024) dem scheinbar so vorherbestimmten Leben als Spross einer
Theaterfamilie entkommen und etwas anderes machen als seine schauspielernden
Eltern Doris Kiesow und Paul Verhoeven, der als
Theater- und Filmregisseur schließlich Intendant des Bayerischen Staatsschauspiels
geworden war und eine Filmproduktionsfirma gegründet hatte. Der Sohn studierte
deshalb Medizin und wurde Gehirnchirurg. Erst ein Kuss in einer kleinen
Nebenrolle in dem Film „Jack und Jenny“ (1963) brachte ihn auf
die „richtige Bahn“.
Diese Legende hätte nie jemand geglaubt, wenn es sich bei der Darstellerin nicht um die damals schon bekannte österreichische Schauspielerin Senta Berger gehandelt hätte, mit der Verhoeven fortan bis zu seinem letzten Atemzug das berühmteste Ehepaar des deutschen Films bildete. Eine Weile versuchte er noch, beides miteinander zu vereinbaren, Medizin und Film. Er lebte mit seiner Frau, die in Hollywood drehte, als Mediziner in den USA. Doch 1965 gründete er zusammen mit Senta Berger die Sentana Filmproduktion, für die er gleich ein paar Schwabing-Komödien drehte, etwa „Engelchen macht weiter – hoppe, hoppe Reiter“ (1968) oder „Der Bettenstudent“ (1969).
Politisch etwas bewegen
Das kam nicht von ungefähr, denn schon in den 1950er-Jahren war Verhoeven im Theater aufgetreten und vor der Kamera gestanden, etwa als Tertianer Ferdinand in „Das fliegende Klassenzimmer“ von Kurt Hoffmann. Erich Kästner, der Autor der Vorlage und des Drehbuchs, war häufiger Gast im Hause Verhoeven und beeindruckte den jungen Michael durch seine Haltung als politischer Mensch, etwa durch die Ablehnung der bundesdeutschen Wiederbewaffnung. In dieser Anekdote klingt bereits an, was Verhoeven als Filmemacher hauptsächlich beschäftigte: Er wollte mit seinen Filmen politisch etwas bewegen.
Das bewies er schon zu Beginn seiner Karriere mit einem Film
über eine Gruppenvergewaltigung samt Mord und dem Titel „o.k.“, der
1970 die Berlinale auf den Kopf stellte. Jurypräsident George Stevens wollte dem
Film, den er als Angriff auf das Ansehen der US-Army betrachtete, nicht nur
keinen Preis geben, sondern dessen Auswahl für den Wettbewerb generell abgelehnt
wissen. Das empörte andere Jurymitglieder, und auch Filmemacher zogen aus
Protest ihre Filme aus dem Wettbewerb zurück, da sich die Festivalleitung nicht
zu ihrer Auswahl bekennen wollte. Es gab Protestveranstaltungen und am Ende
keine Preisverleihung.
Dieser Skandal führte 1971 zu einer Reform der Filmfestspiele durch den Start des gleichberechtigten „Forums des jungen Films“ als Parallelsektion. Verhoeven hatte mit „o.k.“ offenbar einen Nerv getroffen und wurde beim Bundesfilmpreis 1971 für das beste Drehbuch ausgezeichnet. Der Grund für die Aufregung bestand darin, dass Verhoeven keinen Kostümfilm im Dschungel gedreht, sondern bayrische Schauspieler nach Grünwald geschickt hatte. Die schrecklichen Kriegsverbrechen geschahen nicht mehr im fernen Vietnam, sondern sozusagen vor der Haustür. Alles wirkte ganz nah und selbst aus heutiger Sicht angemessen provokativ, mit Eva Mattes als der Frau, die vergewaltigt und getötet wird.
Die Wahrheit nicht verbiegen
Verhoeven machte weiter, auch mit Arbeiten fürs Fernsehen, wo er Tabus wie die Darstellung von Transsexualität brach, die Verbrechen der deutschen Wehrmacht oder die Bereicherung „normaler“ Deutscher am Hausrat oder Vermögen ihrer ermordeten jüdischen Mitmenschen thematisierte. Manchmal holte er sogar auch seinen Vater Paul Verhoeven vor die Kamera, den man nicht mit dem gleichnamigen niederländischen Filmemacher verwechseln sollte.
1982
verfilmte Verhoeven mit „Die weiße Rose“ die Geschichte der
Widerstandskämpfer gegen Nazi-Deutschland. Erneut warf ihm die Politik Knüppel
zwischen die Beine. Verhoeven hatte sich nämlich geweigert, den im Abspann platzierten
Hinweis bei Aufführungen im Ausland zu tilgen, dass das verbrecherische Urteil
des Freisler-Volksgerichtshofes formal immer noch gelte. In eine ähnliche Kerbe
schlug Verhoeven mit „Das schreckliche Mädchen“ (1990). Darin
bringt eine Schülerin mit ihrem Aufsatz über „Meine Stadt im Dritten Reich“ die
Öffentlichkeit gegen sich auf, weil sie die Wahrheit nicht weiter verdrängen
will. Der Film gewann in London den BAFTA-Preis als bester fremdsprachiger Film
und wurde für die „Oscars“ in Los Angeles nominiert.
Einer von Verhoevens letzten unter seinen fast 80 Filmen war 2014 die Adaption eines Romans von Laura Waco mit dem Titel „Zuhause wird nichts erzählt“, den er als „Let’s Go“ (2014) adaptierte. Darin geht es um eine junge Frau, die Mühe hat, mit ihrer Mutter ins Gespräch zu kommen, die den Holocaust überlebte. Die differenzierte Machart dieses Filmes mit Alice Dwyer in der Hauptrolle ist beispielhaft für den unaufgeregten Regiestil von Michael Verhoeven. Die Skandale um seine Filme hatten stets mit deren Thematik zu tun, nicht etwa mit einer besonders skandalisierenden Machart. Selbst seine gar nicht so unbedeutende Rolle bei der Entstehung der Filmförderung in Deutschland hat er stets heruntergespielt. Zwar gehörte er nicht zu den Unterzeichnern des Oberhausener Manifests zum Neuen deutschen Film, war aber mehrfach mit Alexander Kluge und Volker Schlöndorff nach Bonn gefahren, um bei den Kulturpolitikern Nägel mit Köpfen zu machen.
So freundlich wie bestimmt
Seine Stimme wurde gehört. Er war schließlich mit Senta Berger in Hollywood gewesen, hatte schon in „Opas Kino“ eine Rolle gespielt und sich eindrucksvoll von der Übermacht eines Vaters befreit. Und er soll auch die Idee von Alexander Kluge unterstützt haben, doch lieber Senta Berger als Botschafterin des Neuen deutschen Films zu Willy Brandt als Bundeskanzler zu schicken. Auch als Senta Berger ab 2003 als Präsidentin der Deutschen Filmakademie vorstand, hielt er sich stets im Hintergrund.
Der stille Rebell hat es dennoch geschafft, eine neue Filmfamilie zu etablieren: mit Senta Berger, dem einzigen echten deutschen Filmstar als Prinzipalin, Sohn Simon Verhoeven als Produzent und Filmregisseur und Sohn Luca Verhoeven, der ebenfalls bei Sentana Filme produziert.
Bei allem Ernst und aller politischer Bedeutung von Michael Verhoeven ist es durchaus in Ordnung, seiner als des extrem freundlichen Ehemanns von Senta Berger zu erinnern, der mit der Serie „Die schnelle Gerdi“ (1989) und Senta Berger als Taxifahrerin ein liebevolles Porträt seiner eigenen Mentalität hinterlassen hat. Nach kurzer schwerer Krankheit ist Michael Verhoeven mit 85 Jahren am 22. April 2024 gestorben.