© Viennale/Roland Ferrigato (Paolo Calamita, Eva Sangiorgi)

Ein großes Rad drehen - das „Viennale“- Leitungsduo

Ein Gespräch mit dem „Viennale“- Leitungsduo Eva Sangiorgi und Paolo Calamita über die Veränderungen des Festivalsektors und wie die Filmkultur langfristig am Leben erhalten werden kann

Veröffentlicht am
05. Dezember 2023
Diskussion

Das „Viennale“-Filmfestival, international beachtet für sein Bekenntnis zur Filmkunst und der engen Verbindung zum Publikum sowie gleichermaßen geschätzt für seine gekonnte, fand soeben in seiner 61. Ausgabe (19.-31.10.2023) statt. Ein Gespräch mit dem „Viennale“- Leitungsduo Eva Sangiorgi und Paolo Calamita über Veränderungen des Festivalsektors und wie die Filmkultur langfristig am Leben erhalten werden kann.



Die „Viennale“ steht als das älteste und bedeutendste österreichische Filmfestival für die Entdeckung anspruchsvoller Werke neuer Talente wie für die Begleitung renommierter Filmschaffender der internationalen Filmkunst. Mit seiner konzentrierten Präsentation cineastischer Höhepunkte des aktuellen Filmschaffens ist die „Viennale“ nicht nur ein fester Termin im Herbst der Wiener Kulturszene, sondern ebenso willkommener Jahresausklang für internationale Branchenbesucher. So wird sie ebenfalls von der Politik als Leuchtturm mit internationaler Strahlkraft geschätzt.

Auf den ersten Blick wirkt die „Viennale“ somit wie ein schillernder Kosmos mit vielen Aufgaben und nicht weniger Interessen. Auf den zweiten Blick zeigt sich aber auch bei seiner letzten Ausgabe, dass sich das Festival zwei wesentlichen Ideen verschreibt: nämlich ein bedingungsloses Bekenntnis zur Filmkunst wie der Nähe zum Publikum. Damit unterscheidet sich die „Viennale“ von zahlreichen anderen Festivals, die ihr Profile zunehmend an die Filmbranche ausrichten.

Im Gespräch geben die künstlerische Direktorin Eva Sangiorgi und der kaufmännische Direktor Paolo Calamita Auskunft darüber, wie sie die Identität des Festivals bewahren und gleichzeitig für eine gesunde Entwicklung der Filmwirtschaft und der Festivallandschaft einstehen, indem sie bestehende Strukturen hinterfragen und neue Wege beschreiten.

Paolo Calamita und Eva Sangiorgi (Viennale/Robert Ferrigato)
Paolo Calamita und Eva Sangiorgi (© Viennale/Roland Ferrigato)


Vor Ihrer Berufung zur künstlerischen Leiterin und Co-Geschäftsführerin der „Viennale“ vor rund fünf Jahren haben Sie in México City das von ihnen gegründete Filmfestival „Ficunam“ geleitet. Was hat Sie dazu veranlasst?

Eva Sangiorgi: Ich bin als Stipendiatin zum Studium nach Mexiko gekommen und habe dort 16 Jahre gelebt. In dieser Zeit arbeitete ich auch für das „Ficco“, das International Contemporary Film Festival in México City, das dann aber eingestellt wurde. Plötzlich gab es in Mexiko kein internationales Filmfestival mehr. Mit rund 140 Filmproduktionen pro Jahr ist Mexico aber ein starker Produktionsstandort und auch ein wichtiger Kinomarkt. Die Stadt besitzt auch eine starke cinephile Tradition, wie sich auch in einer großen, sehr aktiven Cinematheque zeigt. Über meine Tätigkeiten für Produktionsfirmen stand ich in engem Kontakt mit vielen Filmschaffenden. México City war immer eine sehr lebendige und kulturell vielfältige Stadt, in der sich viel entwickelte. Auch wenn vergleichsweise viel Geld für die Kultur ausgegeben wird, so ist der Großteil der Gelder an privatwirtschaftliche Interessen geknüpft; viele Projekte haben nur bedingt gute Überlebenschancen. Ein Filmfestival an der Universität anzusiedeln, erschien mir deshalb eine gute Möglichkeit, sein Bestehen zu sichern. In diesem Jahr hat das „Ficunam“ seine 13. Ausgabe erlebt. Die „Viennale“ war für uns von Anfang an eine wichtige Inspirationsquelle und so kam ich jedes Jahr nach Wien, um hier Filme zu sichten.

Macht es das Leben eines kaufmännischen Festivalleiters leichter oder eher herausfordernder, wenn man jemanden an seiner Seite hat, die nicht nur über eine künstlerische Expertise, sondern auch über Managementkompetenzen verfügt?

Paolo Calamita: Es macht es definitiv einfacher! Oftmals stellt sich zwischen einer kaufmännischen und einer künstlerischen Leitung das Problem, dass es auf der einen Seite eine künstlerische Vision gibt und auf der anderen die Notwendigkeit, diese Vision in die Nähe der Realität zu bringen. Eva Sangiorgi denkt aber immer auch die Realisierbarkeit mit. Da sie bei „Ficunam“ mit ganz anderen, viel bescheideneren Ressourcen zurechtkommen musste, war sie anfangs sogar eher zurückhaltend. Ich erinnere mich, dass ich sie als damaliger Marketingleiter der „Viennale“, der mit den Möglichkeiten und Grenzen des Festivals gut vertraut war, vielfach motiviert habe, sich weniger Gedanken über das Budget zu machen, zumal sich ihre Ideen als wertvoll und gewinnbringend erwiesen. Sie war sehr kostenbewusst. Erst im Laufe der Jahre, auch mit dem wachsenden Erfolg, nivellierte sich diese Haltung.

Eva Sangiorgi: In Mexiko trug ich die alleinige Verantwortung für alle Einzelheiten. Bei der „Viennale“ traf ich dann auf ganz andere Dimensionen und Optionen. Als ich die Position übernahm, fand ich in Paolo Calamita einen Kollegen, der das Festival bis ins Detail kannte und mir immer eine verlässliche Grundlage für Entscheidungen bot. Diese Situation ermöglichte vieles.

Heute trifft man in der Position von geschäftsführenden Festivalleitungen immer wieder auf Produzenten wie ehemals Bero Bayer beim Filmfest Rotterdam oder aktuell Mariette Rissenbeek bei der „Berlinale“. Auch Ihr Hintergrund ist der eines Produzenten. Warum zeichnen sich Produzenten in besonderem Maße für die Geschäftsführung eines Filmfestivals aus?

Paolo Calamita: Die wesentlichen Eigenschaften eines Produzenten liegen wie bei einem kaufmännischen oder geschäftsführenden Direktor in der Haltung, die künstlerische Idee über die kommerzielle Rentabilität zu stellen und gleichzeitig realistisch und erfahren genug zu sein, um zu wissen, dass nicht alles machbar ist. Die Idee, dass ein Produzent auch ein perfekter kaufmännischer Festivaldirektor sein kann, basiert darauf, dass es sich in beiden Fällen um künstlerisch orientierte Unternehmungen handelt. Da sich unter Produzenten aber auch sehr spezielle Persönlichkeiten finden, ist es wahrscheinlich nicht automatisch eine weise Entscheidung, in jedem Fall einen Produzenten zu besetzen. Und es gibt immer wieder Fälle, bei denen der Match zwischen künstlerischer und kaufmännischer Leitung nicht funktioniert. Oder wo sich sehr konfliktreiche Beziehungen entwickeln.

Welches Führungsmodell halten Sie am erfolgversprechendsten in der heutigen Zeit? Die Konzentration der Verantwortung in einer Hand, die Doppelspitze, wie in Ihrem Fall, oder aber eine Dreiteilung in künstlerische und kaufmännische Leitung plus einen aktiven Präsidenten oder eine aktive Präsidentin?

Eva Sangiorgi: Meiner Meinung nach ist die Aufteilung in eine künstlerische und kaufmännische Leitung fundamental. Selbst ein Festival wie „Ficunam“ hat die Verantwortung inzwischen auf zwei Positionen verteilt. Es ist riskant, all diese Aufgaben in einer Position zu vereinen, zumal das heute nicht mehr die Strukturen und Aufgaben eines Filmfestivals abbildet. Eine einzige Person ist nicht mehr in der Lage, diese Maschinerie in ihren Details zu überblicken und erfolgreich zu steuern. Ich glaube, dass das Intendanten-Modell einer Projektion auf die Vergangenheit folgt, als man sich oftmals den „einen Mann“ an der Spitze vorstellte. Diese Idee bildet schon lange nicht mehr die heutigen Herausforderungen eines Filmfestivals ab. Ich habe für diese rückwärtsgewandte Vorstellungen wenig Sympathie und sehe, dass dadurch auch die künstlerische Seite beeinträchtigt wird. Ich halte es auch mit Blick auf die Gesundheit einer Organisation für problematisch. Machtvolle Präsidenten finden sich zumeist dort, wo Festivals eine starke Verbindung zur Politik aufweisen. Die Rolle eines Präsidenten kann sehr wichtig sein; sie sollte sich jedoch auf die Funktionen von Repräsentation und Promotion und damit der Unterstützung des Festivals beschränken, während die künstlerische wie kaufmännische Leitung schlichtweg auch ein Job ist.

Paolo Calamita: Ich stimme Eva Sangiorgi völlig zu und denke, dass das Modell mit der „einen Frau“ (lacht) – ehemals Mann – die oder der alles kann und macht, eine klare Vision besitzt und gleichzeitig alles unter Kontrolle hat, ein hübscher Gedanke ist, mehr nicht. Eigentlich sogar eine Lüge und ein Blick auf eine Welt, die es nicht mehr gibt. Wenn man sich heute die Anforderungen an Festivals ansieht, rechtliche Fragestellung, budgetäre Herausforderungen, technische Entwicklungen, allein das Ticketing, bis hin zur Führung der Teams, so bedarf es eines Menschen, der dafür kompetent ist und sich zuständig fühlt. Man kann diese Themen einerseits nicht gewissenhaft abdecken und sich gleichzeitig mit allen Strömungen des Weltkinos auseinandersetzen. Ich denke, dass es auch hierbei hilft, sich über die Identität eines Filmfestivals im Klaren zu sein und dementsprechend seine Prioritäten zu setzen. Sieht man sich eher der Kunst- oder der Business-Seite der Filmbranche verpflichtet. In meinen Augen kommt es hier immer wieder zu weitreichenden Missverständnissen.

Eröffnungsgala der 61. "Viennale" 2023 (Viennale)
Eröffnungsgala der 61. "Viennale" 2023 (© Viennale)

Wenn wir über Profile und Identitäten von Filmfestivals sprechen, präsentiert sich die „Viennale“ als eines von weltweit 43 bei der FIAPF akkreditierten Filmfestivals, das keinen Wettbewerb ausrichtet und auch keine Branchenangebote wie Märkte, Trainings oder Funds beherbergt. Wie lässt sich der Kern der „Viennale“ beschreiben und welche Vorteile eröffnet diese Positionierung?

Eva Sangiorgi: Den Kern der „Viennale“ bildet seine Programmauswahl, die sich ausschließlich der Qualität verschreibt, frei von jeglichen Verpflichtungen und Kompromissen, die beispielsweise mit Premieren oder Wettbewerben verbunden sind. Die „Viennale“ versteht sich als Festival, das unterschiedliche kinematografische Geografien und verschiedenste Productionvalues und Filmsprachen präsentiert. Dieses Konzept habe ich von meinem Vorgänger Hans Hurch übernommen, auch wenn ich die Perspektive auf Dokumentar- und Spielfilme noch stärker geöffnet habe. Dabei geht es immer auch um den Dialog mit der Filmgeschichte. Über allem aber steht, dass die „Viennale“ ein Festival für das Publikum ist. Und auch wenn wir keine expliziten Industrieprogramme durchführen, gibt es eine Reihe von interessanten Räumen für Branchenvertreter. Wir können unsere Ressourcen und unsere Energie allein den Filmen, den Gästen und den Menschen im Kino widmen. Das empfinden wir als großes Privileg und das sichert uns auch eine sehr besondere Position innerhalb der Festivalwelt.

Paolo Calamita: Es gibt wenige unter den mittelgroßen Filmfestivals, die sich gänzlich dem Film verschreiben und nicht versuchen, Industrie-Labs bis hin zu hochdotierten Filmpreisen zu integrieren. Wir verleihen nicht das Goldene Riesenrad oder what ever. Wir wundern uns hingegen manchmal, mit welcher Ernsthaftigkeit mancherorts diese Preise verliehen werden.

Dieses Selbstverständnis spiegelt sich nicht zuletzt darin, dass sich innerhalb der Organisationsstruktur der „Viennale“ auch ein eigenes Kino findet. Wie kam es zu dieser Erweiterung?

Paolo Calamita: Tatsächlich hat die „Viennale“ zwei Tochterunternehmen mit insgesamt drei Kinobetrieben. Die „Viennale“ ist in ihrer Rechtsform ein Verein, die Töchterfirmen sind GmbHs, um unsere Haftung zu begrenzen. Somit stellen wir die Eigentümervertreter dar für die beiden Töchter, einmal das Gartenbaukino und der Stadtkino Verleih, der das Stadtkino sowie das Admiralkino betreibt. Aber wir sind nicht ins Tagesgeschäft der Kinos involviert, auch wenn wir natürlich die künstlerischen und wirtschaftlichen Entwicklungen verfolgen. Vielmehr gibt es mit Wiktoria Pelzer und Norman Shetler zwei sehr erfahrene Kinoleiter:innen. Es ist eine sinnvolle Option und nicht mehr völlig ungewöhnlich, dass Filmfestivals Kinos übernehmen.

Filmfestivals scheinen ihre Unternehmungen vermehrt auszudifferenzieren, indem sie eigene Verleihe gründen. Gibt es bei der „Viennale“ hierzu auch Pläne?

Eva Sangiorgi: (lacht) Nun ja, wir haben bereits die Struktur mit dem Stadtkino und dem Gartenbaukino und auch dem Stadtkino Filmverleih, also muss nicht eigens etwas Neues geschaffen werden.

Paolo Calamita: Natürlich ist es verführerisch, einen eigenen Verleih zu haben. Aktuell ist es so, dass wir rechtlich für den Stadtkino Verleih verantwortlich sind, er aber inhaltlich unabhängig agiert. Es kommt auch vor, dass wir unterschiedliche Interessen haben. Trotz unserer rechtlichen Verbundenheit versuchen wir, den Stadtkino Verleih nicht anders zu behandeln als andere Verleiher. Das würde auch ein Compliance-Problem nach sich ziehen. Somit zahlen wir auch nicht mehr oder weniger Gebühren, und man gibt uns auch nicht automatisch jeden Film. Es besteht aber eine große Nähe im Selbstverständnis und in der Haltung, wie man mit Filmwerken umgehen sollte. Ungeachtet dessen ist es für Festivals aber zunehmend interessanter, einen eigenen Verleih aufzubauen, da die Abhängigkeit von der Entscheidung, ob ein Verleiher seinen Film hergibt oder doch lieber ein paar Wochen zuvor im Kino startet, heute sehr groß ist. Da die „Viennale“ mit ihrer Platzierung in der letzten Oktoberwoche vergleichsweise spät im Jahr stattfindet, verbleiben nur sechs Wochen bis Weihnachten, um viele dieser Österreich-Premieren ins Kino zu bringen. Dabei sind die Winterwochen im Kino oftmals so schon von anderen Filmen und insbesondere den Neustarts der US-Majors besetzt.

Eva Sangiorgi: Bei unseren Verhandlungen mit den World-Sales-Vertretern führen wir immer öfter solche Gespräche und Diskussionen. Es kommt aber auch vor, dass sich Unternehmen schlichtweg der Kommunikation mit Festivals verweigern. Nachdem die Streamer immer mehr Teil der Filmindustrie werden und eine neue Rolle als Auswerter für Kinofilme einnehmen, scheint eine Festivalplatzierung nur noch dann gesichert, wenn eine Kinoauswertung geplant ist und der Film nicht gleich danach auf einer Plattform ausgewertet werden soll. Und selbst wenn eine Kinoauswertung geplant ist, dauert es oft zu lange, bis ein Film in Österreich einen Verleih gefunden hat, um in unserem Programm berücksichtigen zu werden. Somit stellt sich sehr wohl die Frage, ob wir nicht auch den Verleih übernehmen.

Paolo Calamita: Auch aus finanzieller Perspektive wäre es oftmals interessanter, diesen Weg zu gehen. Denn Filmfestivals bekommen die Filme oft nur zu den gleichen Konditionen wie ein Kino, also für einen klassischen Box-Office-Share. Man erhält aber nicht den Service, den ein Kino bekommt, also keine vorgelagerte PR- und Werbe-Kampagne. Das Thema beziehungsweise der Film wurde im Verleih auch noch nicht gesetzt, also weiß zu diesem Zeitpunkt noch niemand etwas über den Film. Manchmal bekommen wir nicht einmal eine Version mit deutschen Untertiteln. All das müssen wir dann leisten. Wir erstellen Texte, wir bewerben den Film, wir laden die Filmteams zur Präsentation ein.

Eva Sangiorgi: Außerdem verändert sich parallel der Markt so sehr, dass man nicht umhinkommt, neue Betrachtungen anzustellen. Dies ist auch eine Folge des besonderen „Viennale“-Programms. Wir suchen sehr gezielt einzelne Filme aus der globalen Jahresproduktion heraus und zeigen diese in zwei stark konzentrierten Wochen. Obwohl wir alles daransetzen, dass diese Filme auch danach gesehen werden, machen wir meistens die frustrierende Erfahrung, dass sie keine Chance haben. Für diese „fragileren“ Filme fühlt man eine besondere Verantwortung.

Der aktuelle "Viennale"-Programmkatalog (Viennale)
Der aktuelle "Viennale"-Festivalkatalog (© Viennale)

In der zum 60. Jubiläum der „Viennale“ veröffentlichten Publikation „On Film Festivals“ findet man zahlreiche weitsichtige Positionen zur Lage und Zukunft des Filmfestivalsektors. Welche der Ansätze halten Sie für besonders relevant?

Eva Sangiorgi: Es gibt darin viele sehr interessante Beiträge. So hat beispielsweise Gerwin Tamsma im Kontext der großen Veränderungen des Internationalen Filmfestivals Rotterdam einen sehr wertvollen Beitrag über das sich wandelnde Selbstverständnis von Filmfestivals geschrieben. Mit Blick auf die inhaltliche Seite der Filmfestivals finde ich den Essay von Marco Müller brillant, in dem er die Wichtigkeit hervorhebt, die Cinephilie von der puren Unterhaltung abzugrenzen. Dabei betont er die große Verantwortung all jener, die sich als Kurator:innen verstehen, den Menschen, die sich zum Film bekennen und den Wunsch haben, Filmsprachen zu verstehen, diesen auch zu entsprechen und nicht irgendwelchen neuen Trends hinterherzulaufen.

Wie wird sich die Filmindustrie und die Kinolandschaft in zehn Jahren aussehen und welche Rolle wird darin der globale Filmfestivalsektor spielen?

Paolo Calamita: Wenn wir über eine Utopie sprechen, also darüber, wie ich mir die Situation wünschen würde, dann hätten die Filmfestivals ihre tragende Position verloren, die Filmkunst für das Publikum zugänglich zu machen. Denn die klassische Filmdistribution würde dann ihre Verantwortung wahrnehmen und herausragende Werke in größerer Breite auf den Markt bringen und sich nicht mehr auf eine sehr selektive, von prominenten Namen geleitete und an wirtschaftlich orientiertere Auswertung beschränken. Das würde den Festivals ermöglichen, nur noch sehr exzeptionelle, spezielle, experimentelle Werke zu zeigen. Das wäre meiner Meinung nach das Ideal. Ich fürchte aber, dass genau das Gegenteil passieren wird. Die Filmfestivals werden mit Sicherheit nicht schwächer, aber sie werden immer mehr Nischen abdecken, und das reguläre Kino wird immer oberflächlicher werden. Selbst wenn heute aufgrund der Digitalisierung mehr Filme Verbreitung finden, bedeutet das nicht, dass das Kino in der Wahrnehmung der Menschen einen festen Platz einnimmt. In der jüngeren Generation ist die Kunstform Kino heute stark marginalisiert.

Eva Sangiorgi: Ich stimme Paolo Calamita zu. Diesen grundlegenden Veränderungen müssen wir uns bewusst stellen. Die Festivals werden ihre Stärke in vielen Fällen bewahren, weil sie als Special Events der Zeit entsprechen. Auch wenn die Auswahl der Filme unser zentrales Angebot ist, bestimmt doch gerade die Verbindung zum Publikum die Essenz eines jeden Filmfestivals.

Wir sehen, dass immer mehr Filmproduktionen auf den Markt kommen, allein 2000 Werke jedes Jahr aus Europa. Viele von ihnen treffen bei Filmfestivals auf ein begeistertes Publikum. Gleichzeitig aber verengt sich die klassische Auswertung immer mehr. Übernehmen demnach die Filmfestivals die Lücke, die der reguläre Markt zurücklässt?

Paolo Calamita: Wir registrieren, dass Filmemacher verzweifeln und mehr und mehr von Filmfestivals abhängig sind, damit ihr Film den Weg ins Kino findet. Zudem sind heute die Forderungen nach Screening-Gebühren viel höher als noch vor einigen Jahren. Dies entwickelt sich zu einem immer größeren Ringen, insbesondere wenn die Kinoauswertung komplett ausfällt oder in einem deutlich geringeren Rahmen stattfindet und auch noch Minimumgarantien wegbrechen. Wenn man als Produzent einen Film an ein Festival gibt, hat man es entweder mit den A-Festivals zu tun, das keine Screening-Gebühren zahlt, weil die Vergütung in der Werbung für den Film liegt. Oder man gibt ihn an ein Festival wie die „Viennale“, das selbstverständlich Screening-Fees bezahlt. Oder an all die kleinen Filmfestivals, die, wenn überhaupt, nur Beträge von rund 100 oder 200 Euro bezahlen können. Für die Produktionsfirmen kommen damit gerade mal die Kosten für die Organisation der Festivaleinladungen herein. Auch wenn die Idee eines Wechsels vom Filmverleih zu den Filmfestivals wirklich wunderschön ist, kann dies nur funktionieren, wenn die Festivals auch ernsthaft Screening-Fees bezahlen.

Eva Sangiorgi: Es ist wichtig, dass diejenigen, die sich als Teil dieses Sektors verstehen, einsehen, dass es einer Grundlage für ein gesundes Business braucht. Wir erleben ein enormes Anwachsen der Filmfestival-Landschaft in vielen Ländern der Welt; auch in Mexiko gibt es heute rund 150 Filmfestivals. Aber oftmals sind dies nur einzelne Impulse, ohne Nachhaltigkeit. Viele Akteure verfügen heute über die Möglichkeit, ein Festival zu initiieren, ohne dies aber langfristig am Leben zu erhalten. Um die Überlebensfähigkeit von Filmfestivals sicherzustellen, müssen wir Filmfestivals besser verstehen lernen und auch kritischer hinterfragen. Zudem ist im Unterschied zu vor zehn oder 20 Jahren das Filmfestival-System heute von einer mehrstufigen Vermittlungsstruktur geprägt. Selbst wenn man kleinen Filmen Sichtbarkeit verleihen will, gibt es immer noch jemand, der diesen Film zusätzlich auch repräsentiert und damit in die Verhandlungen einbezogen und bezahlt werden muss. Auf der anderen Seite glaube ich an diese unersetzbare Rolle der Filmfestivals, denn wahrscheinlich werden sie die Lücke der fehlenden Distribution noch mehr auffangen. Dazu muss sich aber die Grundlage der Strukturen ändern. Noch vor einigen Jahren hat man auch beim Scouten von Filmen direkt mit den Filmemachern oder mit den Produzenten gesprochen. Das passiert heute immer seltener. Da ich als Co-Geschäftsführerin für die Finanzierung eines Filmfestivals mitverantwortlich bin, betonte ich auch, dass jeder, der dieses Business seriös betreiben will, sich als Teil eines ökonomischen Flusses verstehen muss, in dem an die Menschen gedacht wird, die diese Filme entwickeln und produzieren.


Hinweis

Der aktuelle Festivalkatalog der 61. "Viennale", aber auch viele Ausgabe früherer Jahre sind im Shop der Viennale für 9 oder 10 Euro erhältlich.

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