In den rätselhaften Filmen von David Lynch tut man gut daran, sich an die Frauenfiguren zu halten. Das gilt auch für „Mulholland Drive“, in dem Lynch neben Naomi Watts und Laura Elena Harring auch die Königin des Stepptanzes besetzt, die inzwischen 82-jährige Ann Miller. Einmal mehr unterstreicht Lynch, dass er zu den großen Frauen-Regisseuren der Filmgeschichte zählt.
Der Mulholland Drive ist eine kurvenreiche exponierte Straße, die Hollywood und Beverly Hills auf der einen Seite von dem inzwischen ebenfalls dicht besiedelten San Fernando Valley trennt. Besonders zur Nachtzeit gewährt sie geradezu unwirklich anmutende Ausblicke über das schier endlose Lichtermeer zur Linken und zur Rechten. Es ist eine Straße, die einstmals südliche Opulenz von nördlicher Frugalität abgrenzte. Nach der Industrialisierung ist von solchen Unterschieden kaum mehr als die Trennung in Hollywood und seine verwegenen Ableger des Porno-Geschäfts geblieben. Die Landschaft zu beiden Seiten der Straße wurde zersiedelt, und ihre nächtliche Schönheit weicht tagsüber ernüchternder Funktionalität.
David Lynch hat den Namen dieser Straße, die auf der Welt an Symbolträchtigkeit ihresgleichen sucht, zum Titel seines neuen Films gewählt. In allen seinen Filmen hält Lynch nach den verborgenen Widersprüchen des scheinbar Vertrauten Ausschau, nach den zwei Seiten von Menschen und Dingen. So wie „Eraserhead“ seine „Philadelphia Story“ war, so ist „Mulholland Drive“ sein „Sunset Boulevard“. Der Ortsfremde hat Schwierigkeiten, sich im beständigen Auf und Ab, Nord und Süd des sich dahinschlängelnden Mulholland Drive zurechtzufinden; auch Betty Elms, die Hauptfigur in Lynchs Film, verirrt sich in den zahllosen Seitenwegen eines illustren Gewerbes und einer vielgesichtigen Stadt, bis der Zuschauer nicht mehr sicher sein kann, ob er nicht ebenfalls die Richtung verfehlt hat. „Wenn er Ihnen sagen könnte, worum es in seinen Filmen geht, würde es nicht darum gehen“, kommentiert Lynchs erste Frau, Peggy Reavey.
Mit staunenden Augen
Wie die Straße hoch oben auf dem trennenden Bergrücken hält
auch David Lynch viele Möglichkeiten zur Interpretation einer Erfahrung bereit,
die ebenso gut Realität wie Traum sein könnte. Es sind die Frauenfiguren, aus
denen sich die Story und ihre Widersprüche konstituieren. Wieder einmal
verlangt Lynch seinen Darstellerinnen viele gegensätzliche Gesichter ab. Die
junge Naomi Watts, die mit nichts anderem als ihrem Optimismus
und dem Vertrauen auf die Hilfe ihrer Landsmännin Nicole Kidman
aus Australien nach Hollywoodkam, hat den schwersten Part erwählt: die blonde
Betty, die mit großen staunenden Augen in Los Angeles eintrifft und alles, was
sie sieht, mit grenzenloser Naivität akzeptiert.
So verhält sie sich auch gegenüber der brünetten Rita (Laura Elena Harring), die sie im Apartment ihrer Tante unerwartet vorfindet und die sich so nennt, weil sie ein Poster von Rita Hayworth in „Gilda“ bewundert. Rita leidet unter Amnesie, was Betty nur noch mehr dazu verführt, ihre angeborene Hilfsbereitschaft über ihr auszugießen. „Betty war so gut, so süß“, sagt Naomi Watts, „wie niemand in solcher Eindimensionalität sein könnte – besonders nicht im Kontext eines David-Lynch-Films“. Naomi Watts hat Recht. In der zweiten Hälfte des Films spielt sie deshalb auch Diane, das verbitterte, abgewirtschaftete Gegenstück zu Betty – die Kehrseite des verführerischen Hollywood, wenn man so will.
David Lynch hat einen unbestechlichen Blick für Schauspielerinnen. Von Isabella Rossellini in „Blue Velvet“ und Laura Dern in „Wild at Heart“ lässt sich eine direkte Linie zu der bis dahin noch ganz und gar unbewährten Naomi Watts ziehen, die mit ihren 31 Jahren erst am Anfang einer Karriere steht.
Lynch, dieser unbeirrbare Entdecker lauernder Gegensätze, liebt es aber auch, der schönen jungen Frau eine reife ältere Frau entgegenzusetzen. In einem Film über Hollywood macht es Sinn, dass es ein Star aus der ruhmreichen Vergangenheit der Filmmetropole sein muss, der diese Rolle spielt. Wie Richard Farnsworth in „The Straight Story“, Dean Stockwell in „Blue Velvet“ und Diane Ladd in „Wild at Heart“ ist es diesmal Ann Miller, die Königin des Stepptanzes, die aus der Vergangenheit noch einmal ins Rampenlicht einer wichtigen Schlüsselrolle gerückt wird. Die Stars von gestern, die gleichsam als lebendiges Zitat der Filmgeschichte – wie auch in vielen Filmen von Rainer Werner Fassbinder – den Bogen zu stets gegenwärtigen Vorbildern schlagen, verleihen den Filmen Perspektiven, die aus der vielschichtigen Traumwelt David Lynchs wie Wegweiser hervorragen.
In voller Kriegsbemalung
Ann Miller hat nie die Popularität von Judy Garland oder
Debbie Reynolds erreicht, aber sie gehört zum Erinnerungsschatz der
Musical-Fans wie die drei Matrosen in Gene Kellys „On the Town“,
mit denen sie unermüdlich durch New York tanzte. Ihre Erfahrung reicht von
drittklassigen Western bis zu Charles Walters’ „Easter Parade“: „Honey, I
worked with Gene Autry – and was one of the first girls that kissed him other
than his bloody horse!“ Mit 82 trägt sie immer noch volle Kriegsbemalung, wenn
sie in die Öffentlichkeit geht, aber sie besitzt auch eine andere Seite, die
Lynch womöglich nicht weniger fasziniert hat als ihr ungebrochenes Temperament:
Sie vergräbt sich in Mythologie und ägyptische Geschichte und ist davon
überzeugt, der wieder geborene erste weibliche Pharao zu sein. Mit dieser
Allüre einer huldvollen, aber gestrengen Herrscherin hat sie sich der Rolle in „Mulholland
Drive“ genähert, der Mutterhenne des Apartmenthauses, in dem Bettys abgestiegen
ist.
Wer die Filmgeschichte nach großen Frauen-Regisseuren durchforstet, wird nach dem unübertrefflichen George Cukor auch David Lynch nicht übersehen dürfen. Hatte er schon in seinen früheren Filmen singuläre Frauenfiguren geschaffen, so ist ihm „Mulholland Drive“ ganz und gar zu einem Frauenfilm geraten. Seit der Vorführung des Films beim Festival in Cannes hat es immer wieder Zuschauer (und Kritiker) gegeben, die sich in den Windungen und scheinbaren Sackgassen der Geschichte nicht zurechtfinden konnten, die agildauf der kurvenreichen Strecke des Mulholland Drive die Aussicht aus dem Blick verloren und sich – wie die Straße an ihrem westlichen Ende – in schwer zugänglichem Terrain verirrten. Man kann ihnen nur einen Rat geben, um die Orientierung in Lynchs Realität und in Lynchs Albtraumwelt wieder zu finden: Haltet euch an den Frauen fest!