Der kanadische Zeichner Stéphane Lemardelé konnte sein Glück kaum fassen, als er 2013 als Storyboard-Zeichner für Wim Wenders‘ 3D-Spielfilm „Everything will be fine“ angefragt wurde. Jetzt hat er aus der Begegnung mit dem deutschen Regisseur eine Graphic Novel gemacht, die weit über die kurze Zusammenarbeit an dem Spielfilm im Jahr 2014 hinausreicht.
Dass der kanadische Zeichner und Illustrator Stéphane Lemardelé als Storyboard-Artist an Wim Wenders’ 3D-Film „Every Thing will be fine“ beteiligt war, ist eigentlich nur eine Fußnote. Ein Storyboard ist eine dem Comic ähnliche sequenzielle Abfolge von Zeichnungen, die in der Filmproduktion als Vorarbeit für komplexere oder durch erschwerte Drehbedingungen anspruchsvollere Szenen angefertigt wird und die einzelne Szenen mit Einstellungsgröße und Perspektive veranschaulicht. Im Abspann taucht der Storyboard-Artist im Art-Department eher im hinteren Segment auf. So auch Lemardelé im Abspann von „Every Thing will be fine“.
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Für den Film hat Lemardelé lediglich die Eröffnungsszenen illustriert, um Klarheit in die visuelle Gestaltung zu bringen und die Dreharbeiten im winterlichen Kanada bei minus 15 bis minus 20 Grad zu erleichtern. Es sind rund 13 Filmminuten, für die vor den Dreharbeiten ein Storyboard angefertigt wurde. Wenn man aus den kurzen Zusammentreffen von Wim Wenders und Lemardelé nun eine umfangreichere Graphic Novel entstanden ist, könnte das leicht so wirken, als wollte sich der Storyboarder an den Ruhm des weltberühmten Filmemachers hängen. Doch weit gefehlt: Stéphane Lemardelés Graphic Novel „Das Storyboard von Wim Wenders“ ist für Film- wie für Comic-Fans gleichermaßen ein Glücksfall.
„Ich werde am nächsten Wim-Wenders-Film mitarbeiten … ‚Der Himmel über Berlin‘, ‚Paris, Texas‘, ‚Pina‘“.
Lemardelés Comic beginnt mit seiner Aufregung am Tag vor dem ersten Treffen mit
Wenders. Der Zeichner entpuppt sich als großer Wenders-Fan, und diese Ehrfurcht
zieht sich durch den ganzen Comic. Das ist auch nicht weiter problematisch,
denn man muss als Leser kein Fan von Wenders’ Werk sein, um die detailreiche
Zusammenarbeit der beiden Künstler ähnlich aufregend zu empfinden wie
Lemardelé.
Aufschlussreiche Einblicke in Wenders‘ Arbeitsweise
Auf das erste Kennenlernen folgen allgemeine Erörterungen zum anstehenden Film, zu seinem Thema und seinem Look. Dann zieht es Wenders, Lemardelé und Set-Designer Emmanuel Fréchette an die Drehorte der Szenen, die im Storyboard illustriert werden sollen. Hier gleichen sie Wenders’ Wunschvorstellungen mit der Realität ab: Perspektiven und Einstellungsgrößen werden ausprobiert und angepasst, aber auch Ideen zur Lichtsetzung und fürs Setdesign erörtert.
Diesen Prozess anhand des Comics in der weiten, verschneiten Landschaft Kanadas ganz nah begleiten zu können, ist spannend und aufschlussreich sowohl in Hinblick auf die Filmproduktion als auch auf die Arbeitsweise von Wim Wenders. Besonders spannend ist der produktionstechnisch aufwändige Ablauf auch aus dem Grund, aus dem der Storyboard-Artist mit an Bord geholt wurde: Gedreht wird bei Eiseskälte, zum Teil auf einem zugefrorenen See.
Hier bricht der Protagonist Tomas (James Franco) zu Beginn von „Every Thing will be fine“ nach dem Eisangeln auf, um zu seiner Freundin Sara (Rachel McAdams) zu fahren. Es wird eine schicksalshafte Fahrt durch dichten Schnee, bei der er einen Jungen überfährt. Der Film erzählt von den folgenden zwölf Jahren, in denen Tomas versucht, mit den Ereignissen und der Schuldfrage einen Umgang zu finden. Er findet Trost in der Kunst, als er einen Roman schreibt.
Weil der Protagonist immer wieder an den Ort des Unglücks
zurückkehrt, hat das Filmteam hier bereits während sanfterer Jahreszeiten
gedreht. Nun fordert das Drehbuch aber auch Kälte und viel Schnee. Das erschwert
die Dreharbeiten, die deshalb besonders gut geplant und schnell erledigt sein
müssen, was das Storyboard ermöglichen soll.
Intensive Gespräche über den Film und das Filmen
Die konkreten Ereignisse der Vorproduktion von Wenders’ erstem Spielfilm seit „Palermo Shooting“ (2008) sind nur die Rahmenhandlung, die der Graphic Novel als Aufhänger für Wenders’ Ausführungen dient. Denn Lemardelé nutzt die Zeit mit Wenders nicht nur zum Zeichnen (für den Film, aber auch für den vorliegenden Comic, der zu dieser Zeit schon als Idee in seinem Kopf keimt); die beiden führen intensive Gespräche über den Film und das Filmen, auch über Wenders’ Vorbilder, vor allem Yasujirō Ozu. Und über Bilder im Allgemeinen, von Jan Vermeer über Edward Hopper bis Walker Evans, übers Geschichtenerzählen und wie das alles – die Bilder und die Geschichten – in einem Kinofilm zusammenkommen – in einem Kinofilm von Wim Wenders.
Auf diese Weise streifen die Gespräche fast automatisch durch
Wenders’ Filmografie, die im Comic mit Filmstills unterlegt wird (echten, nicht
gezeichneten Filmstills wie bei den anderen Film-, Gemälde- und Fotoreferenzen,
zu denen Lemardelé wahrscheinlich die Bildrechte fehlten). Beginnend mit dem
Frühwerk der späten 1960er-Jahre über die Wenders-Klassiker der 1970er- und 1980er
-Jahre bis hin zu den dokumentarischen Filmen „Pina“ oder „Das Salz der Erde“ (die man nicht unbedingt Alterswerke nennen möchte, da
Wenders in diesem Jahr mit „Anselm“ und „Perfect Days“
gleich zwei neue Filme in die Kinos bringt), spricht Wenders über seine
bisherigen Filmprojekte von ersten Ideen über Drehbücher bis zur Finanzierung
und schließlich den Dreharbeiten.
Neben der in natürlich-erdigen Farben gehaltenen Passage über die
Vorproduktion und die ausführlichen, teils auch kulturphilosophischen Gespräche
zwischen Wenders und Lemardelé findet man in der Graphic Novel auch Teile des
echten, in groben Schwarz-weiß-Zeichnungen gehaltenen Storyboards. Eigentlich
ist Lemardelé ja schon vor Drehbeginn mit seiner Arbeit fertig und er könnte
nach Hause fahren. Bei seinem vorangehenden Job als Storyboard-Artist für eine
Hollywood-Produktion wurde sein Wunsch, auch während der Dreharbeiten zeichnen zu
dürfen, abgelehnt. Wenders hingegen lässt ihn gewähren. Und so zeigt Stéphane
Lemardelé am Ende des Comics auch sehr detailliert die Innen- und Außendrehs
der Szenen, für die er „Das Storyboard von Wim Wenders“ entworfen hat.
Literaturhinweis
Das Storyboard von Wim Wenders. Von Stéphane Lemardelé. Splitter Verlag, Bielefeld 2023. 152 Seiten. 29,80 Euro. Bezug: In jeder Buchhandlung oder hier.