Bei Paramount+ ist jetzt der Film „The Eternal Daughter“ von der britischen Regisseurin Joanna Hogg zu sehen. Ein ungewöhnliches Mutter-Tochter-Drama, das von der Zusammenarbeit der Filmemacherin mit der Schauspielerin Tilda Swinton geprägt ist. Diese spielt gleich zwei Rollen: eine an die Regisseurin angelehnte Filmemacherin mittleren Alters sowie deren Mutter. Die beiden verbringen einige Tage in einem vom Nebel eingehüllten, geisterhaften Hotel in Wales.
„The Eternal Daughter“ ist eine Mischung aus Mutter-Tochter-Drama und Geisterfilm. Handlungsort ist ein abgeschiedenes Waliser Hotel, das einmal ein Schloss war. Was war zuerst: die Idee eines intimen Kammerspiels oder der gespenstische Schauplatz?
Joanna Hogg: Die Mutter-Tochter-Beziehung war zuerst da, denn ich schrieb die Geschichte von „The Eternal Daughter“ ursprünglich schon im Jahr 2008. Damals spielte es im Norden von Norfolk, wo ich dann die „Souvenir“-Filme gedreht habe. Da gab es ein viel kleineres Hotel, das nicht so gespenstisch war. Die Beziehung stand in dieser Geschichte schon damals fest. Aber ähnlich wie die Tochter Julie in „The Eternal Daughter“ hatte ich das Gefühl, dass ich den Film zu dem Zeitpunkt nicht drehen konnte. Ich fand, dass ich meiner Mutter etwas stehle, wenn ich sie so porträtiere.
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Ich finde es interessant, dass Sie von Diebstahl in Bezug auf Ihre Mutter sprechen. Sie wollten ja keinen Dokumentarfilm über Ihre Mutter drehen. Die Fiktion erlaubt doch Freiheiten?
Hogg: Die Art, wie ich meine Filme sehe, vor allem, wenn ich sie schreibe, ist sehr unmittelbar. Deshalb wirken sie auf mich wie Dokumentarfilme, weil ich darin versuche, sehr persönlichen Dingen auf den Grund zu gehen. Was mich bei „The Eternal Daughter“ etliche Jahre später dann ermutigt hat, den Film zu drehen, war die Kreation der Figur Rosalind in den „Souvenir“-Filmen. Tilda Swinton spielte darin eine Version meiner Mutter, die sie sich sehr zu eigen gemacht hatte. Als ich das Drehbuch während des ersten Lockdowns in Großbritannien schrieb, lebte meine Mutter noch. Wir drehten den Film in Nordwales, als England wieder im Lockdown war. Das war zu einer Zeit, als ich und viele andere über Sterblichkeit nachdachten. Ich dachte auch sehr viel an Geister. Aus dieser Stimmung heraus entstand der Film.
Konnte Ihre Mutter den Film noch sehen?
Hogg: Nein. Sie starb, als ich gerade beim Schneiden des Films war.
Haben Sie mit Ihrer Mutter darüber gesprochen, dass Sie diesen Film schreiben?
Hogg: Ich war nie mutig genug dazu. Aber sie wusste es wahrscheinlich irgendwie. Jetzt, wo sie nicht mehr da ist, spüre ich eine andere Art von Schuld oder Bedauern, dass ich es nicht geschafft habe, mit ihr darüber zu sprechen. Denn vielleicht hätte sie etwas Positives daraus gezogen; vielleicht hätte das uns mehr verbunden. Obwohl wir ein enges Verhältnis hatten, konnten gewisse Dinge nie richtig ausgesprochen werden.
Beruhen die Erlebnisse aus dem Zweiten Weltkrieg, die in dem Film geschildert werden, auf Erlebnissen Ihrer Mutter?
Hogg: Ja, auch wenn Namen und Situationen geändert wurden. Meine Mutter hat mir zudem noch erzählt, dass sie nicht zur Beerdigung ihres geliebten Bruders gehen konnte, weil sie zu jung war. Der Verlust war ihr immer sehr präsent.
Hat sie ihr Kriegstrauma auf Sie übertragen? Trug das dazu bei, dass sie nicht in der Lage war, sich zu öffnen?
Hogg: Definitiv. Ich habe diese Verluste, die meine Mutter in ihrer Kindheit und ihrem Leben erlitten hat, als Kind sehr intensiv gespürt. Zum Teil auch, weil meine Mutter nicht über diese Erlebnisse sprechen wollte. Meine Fantasie hat ihre Verluste zu meinen eigenen gemacht.
Das Gefühl von Schuld der Mutter gegenüber erinnert mich an die Beziehung, die Chantal Akerman zu ihrer Mutter hatte. Obwohl man das historisch nicht vergleichen kann und Sie jünger sind, scheint da eine ähnliche Dynamik vorzuliegen.
Hogg: Ich war immer sehr berührt von Chantal Akermans Werk und wie sie darin die Beziehung zu ihrer Mutter behandelt. Ich habe sie zum Ende ihres Lebens auch kennengelernt. Mit Kollegen zusammen haben wir eine Retrospektive ihrer Filme veranstaltet, über einen Zeitraum von zwei Jahren, einen Film pro Monat. Zu manchen Vorführungen kam sie aus Paris zu uns, um eine Einführung zu geben oder ein Publikumsgespräch zu führen. Wir haben auch ihre Installationen gezeigt. Das war 2015, in dem Jahr, als sie starb. Aber ein Gespräch über unsere Mütter haben wir nie geführt. Wir haben uns über praktische Dinge zur Retrospektive und Ausstellung unterhalten.
Wie ist die Idee entstanden, Mutter und Tochter von derselben Schauspielerin, Tilda Swinton, spielen zu lassen?
Hogg: Das
war Tildas Swintons Idee. Es stand immer fest, dass sie Julie, die Tochter,
spielen sollte, und eine andere Schauspielerin die Rosalind. Aber da sie
Rosalind als jüngere Version bereits in „The Souvenir“ gespielt hatte, kannte
sie diese Figur. Als sie mir vorschlug, beide Rollen zu spielen, ergab das
Sinn. Mein erster Gedanke war: Das ist perfekt. Mein zweiter Gedanke aber war:
Wie werde ich es hinbekommen, mit meiner gewohnten Arbeitsweise vorzugehen – also
mit viel Improvisation und ohne Tricks? Das war die Herausforderung: Es so zu
gestalten, dass Tilda Swinton ein Gespräch mit sich selbst führen konnte.
Wie sind Sie beim Drehen vorgegangen? Haben Sie Tilda Swinton erst die eine Figur und dann die andere spielen lassen?
Hogg: Ja. Allerdings stand der Dialog nicht im Voraus schon fest. Wenn Tilda Swinton entweder als Rosalind oder als Julie vor mir saß, passierte es öfters, dass wir in Rollenspiele gerieten. Danach schrieben wir die Dialoge auf. Es gab keine richtigen Regeln. Es hing einfach von der Szene ab und wer das Gespräch bestimmte. Dann gab es Pausen, wegen des Make-ups. Die Drehtage verliefen deshalb anders als sonst. Da beschloss ich, die Figuren separat zu filmen, ohne Einstellungen über die Schulter. Ich wollte kein Double, das Tilda Swinton dann hätte anschauen müssen.
Es gibt aber ein paar wenige Szenen, wo beide zusammen auf der Leinwand zu sehen sind.
Hogg: Es gab zwei Momente, wo ich dachte, dass es wichtig ist, sie beide in einem Bild zu haben. Aber meistens wollte ich, dass die Figuren belebte Porträts sind. Manchmal haben wir auch durch einen Spiegel gedreht. Durch die Reflexion ändern sich die Perspektiven. So hat man den Eindruck, dass Julie – oder Rosalind – mal auf dem rechten, mal auf dem linken Bett sitzt. Wir spielen mit ihren Positionen, was zur Desorientierung des Publikums beiträgt. Die Reflexionen und Projektionen sind auch im übertragenen Sinne durch die Beziehung der beiden Frauen untereinander zu sehen.
Wie sind Sie auf die Geisterelemente gekommen? Sie funktionieren sehr gut auf der Leinwand und machen den Film trotz seiner Zweierkonstellation weniger theatralisch.
Hogg: Ich wollte immer einen Geisterfilm drehen. Ursprünglich sollte es kein Mutter-Tochter-Geisterfilm werden, sondern nur ein Geisterfilm. Inspiriert haben mich die Geistergeschichten von M. R. James und anderen Autoren, etwa Rudyard Kipling oder auch das Buch „They“ von Kay Dick. Es ist sehr gruselig, aber sehr gefühlsbetont und die erste Geistergeschichte, die mich zu Tränen gerührt hat. Da wurde mir bewusst, dass ich einen Geisterfilm machen konnte, der sich auch auf sehr emotionales Terrain begibt. Häufig werde ich mehr durch Literatur als durch andere Filme zu meinen Arbeiten inspiriert. Ich mag mir lieber selbst Dinge vorstellen, wenn ich eine Geschichte lese.
Der Film wurde während der Pandemie gedreht, was durchaus zu dem isolierten Schauplatz passt. Hatte Corona einen Einfluss auf die Dreharbeiten?
Hogg: Die Geschichte hatte immer von zwei Figuren gehandelt, die sich in ein Hotel zurückgezogen haben. Insofern änderte sich unsere Art zu drehen kaum. Aber natürlich ging es hinter den Kulissen anders zu. Wir hatten eine Covid-Supervisorin, wurden regelmäßig getestet und trugen Masken. Eine Spannung entstand auch aus den Überlegungen, ob wir das überstehen oder ob wir die Dreharbeiten unterbrechen müssen. Schon in den ersten Tagen erkrankte unser Koch an Covid. Dank unserer Supervisorin, die einzelne Bereiche strikt abgetrennt hatte, konnten wir aber weiterdrehen. Danach gab es keine Zwischenfälle mehr. Wir befanden uns alle in einer Blase.
Konnten Sie beim Dreh Ihre eigenen Ängste angehen?
Hogg: Wir wohnten zu fünft in dem Hotel, das früher ein Schloss war. Ich hätte mich woanders unterbringen lassen können. An einem bequemeren und weniger gruseligen Ort. Aber es war auch praktisch, aufzuwachen und schon am Filmset zu sein. Dennoch schlief ich schlecht. Ich hörte Geräusche, wollte nachts nicht ohne Licht schlafen. Als ich einmal auf mein Zimmer ging, war das Licht an und ich sah einen Schatten unter der Tür. Lauter solche komischen Dinge. Ich war nicht die Einzige, mit der die Fantasie durchging. Der Tonmeister hatte etwa den Eindruck, dass ihn in seinem Zimmer etwas in die Wand zog. Wir empfanden oder hörten alle möglichen Dinge in diesen kalten Zimmern. Es war die Macht unserer Fantasie, wegen dieses besonderen Films, den wir dort drehten.
Wie sind Sie auf den Titel gekommen?
Hogg: Ich habe mich immer als ewige Tochter gefühlt. Aus dieser Beziehung bin ich nie herausgewachsen. Bei meinen anderen Filmen wusste ich nie, wie sie heißen würden. Aber bei „The Eternal Daughter“ konnte der Titel gar nicht anders lauten. So hieß schon das erste Drehbuch im Jahr 2008. Wir werden vielleicht nie erwachsen. Ich werde immer eine ewige Tochter bleiben.