© Constantin (aus „La Strada“)

Die Zukunft des Kino (III): Mit voller Wucht ins Publikum

Kracauer-Stipendium „Die Zukunft des Kinos“ - Zum mobilen Genre des Wanderbühnenfilms (Teil 1)

Veröffentlicht am
21. Juli 2023
Diskussion

Mit ihrer agilen Aufführungspraxis begeistern Kino- und Theater-Wanderbühnen ihr Publikum heute mehr denn je. Was lässt sich aus dieser überraschenden Resilienz für innovative Kinoformen und ihre Bedeutung für die Filmkunst lernen? Ein Blick in sechs Teilen, der im Rahmen der Siegfried-Kracauer-Essays in der Vergangenheit des Kinos nach seiner Zukunft fahndet. Der dritte Teil der Essayreihe widmet sich dem Genre des Wanderbühnenfilms, das von „Das Cabinet des Dr. Caligari“ über „Freaks“ und „La Strada“ bis zur Neuverfilmung von „Nightmare Alley“ durch Guillermo del Toro zahllose Blüten getrieben hat.


Ob „Das Cabinet des Dr. Caligari“ (1920) von Robert Wiene, „Der Mann, der lacht“ (1928) von Paul Leni oder „Freaks“ (1932) von Tod Browning: Insbesondere die Schauergeschichten des frühen Horror- und Phantastischen Films schickten ihre Protagonisten mit Vorliebe immer wieder auf Wanderschaft, um sie, ausgestellt auf Jahrmärkten und in Panoptiken, ganz tief in menschliche Abgründe blicken zu lassen. Es sind wahrhaftige Meisterwerke der internationalen Filmgeschichte, die Lust auf ihre Wiederentdeckung machen und die Rückkehr zum Publikum künstlerisch wortwörtlich nehmen – internationale Wanderbühnen-Filme, die in allen Genres, Ländern und Jahrzehnten zuhause sind. Viele von ihnen gelten nicht nur als künstlerische Höhepunkte des Filmschaffens, sondern bilden auch ein eigenes, sozusagen „mobiles“ Genre. Diese ganz besonderen Filme können im Kino auch heute noch das bewirken, wofür sie einst standen: Auf Tuchfühlung mit dem Publikum zu gehen, weil sie ganz nahe an akute gesellschaftliche und zwischenmenschliche Konstellationen herankommen, in die sie mit ihren mobilen Bühnen, Akteuren und Geschichten mit voller Wucht einfahren.

Auch Autorenfilmer:innen widmeten sich der kleinen Wanderbühne und machten daraus große Sozial- und Melodramen, darunter „Abgründe“ (1910) von Urban Gad, „Das siebente Siegel“ (1957) von Ingmar Bergman oder „Abschied in der Dämmerung“ (1959) von Yasujirô Ozu. Das historisch tief verwurzelte Wandertheater traf einst auf die neuen technischen Möglichkeiten des Wanderkinos. Herauskam eine Wunderbühne, die mit ihren Bildern das Publikum begeisterte und auf staubigen Plätzen Anfang des letzten Jahrhunderts den Weg für die ersten festen Filmtheater ebnete (siehe Essay Teil 1). Der Zauber der mobilen Leinwandbühne umfing auch viele Filmkünstler:innen, die ihre Wanderbühnen-Erfahrungen filmisch in Szene setzten (siehe Essay Teil 2). Und schließlich wanderte die ambulante Bühne selbst in die Filme ein und eroberte sich ihren festen Platz unter den Schlüsselwerken, die vom frühen Stummfilm bis in die Gegenwart reichen.

Mit „Das Cabinet des Dr. Caligari“ beginnt die Verbindung von Kino-Jahrmärkten mit dem Phantastischen (© IMAGO / Ronald Grant)
„Das Cabinet des Dr. Caligari“: Expressionistisches Jahrmarkt-Setting (© IMAGO / Ronald Grant)

Mobiles Genre und Werkschau der Filmgeschichte

Welchen prägenden Einfluss die filmisch erzählte Wanderbühne kulturell hat, zeigt sich beispielsweise im Begriff des Zampanò, der als Figur in „La Strada“ (1954) von Federico Fellini in Italien seinen Ursprung hatte und heute als Begriff in den Alltagsgebrauch eingegangen ist. Sogar Michelangelo Antonioni rahmte Anfang und Ende seines Klassikers „Blow up“ (1966) mit einer in London umherfahrenden Pantomimen-Wanderbühne in einem alten Jeep.

Auch der moderne Film nimmt sich immer wieder des Themas an. So verneigt sich Terry Gilliam mit „Das Kabinett des Dr. Parnassus“ (2009) vor der Magie des frühen Kinos und der Wanderbühne zugleich und transportiert seine Wunderbühne ins 21. Jahrhundert, Starbesetzung inklusive. Genauso macht es Disney auf der Suche nach den Wurzeln des legendären Zauberers Oz in „Die fantastische Welt von Oz“ (2013) von Sam Raimi und katapultiert den feigen Magier von seinem prekären Alltag in eine fremdartige Zauberwelt hinein. Dort befreit seine ermutigende mobile Illusionsmaschinerie ein ganzes Volk von den bösen Mächten, während die Wanderbühne im Neo-Noir-Thriller „Nightmare Alley“ (2021) von Guillermo del Toro bis zum Ende Brutstätte des Bösen bleibt.

Kino und Theater sind nicht mehr voneinander zu trennen, wenn es um die Wanderbühne im Film geht. Sie erschreckt mit ihren grotesk ausgestellten Gestalten in Horrorfilm-Klassikern ebenso wie in ihren Remakes. Sie verzaubert im magischen Realismus Erwachsene wie Kinder in Märchenfilmen. Sie läuft im klassischen wie absurden Drama zu theatralen Formen auf. Sie fesselt im Thriller wie im Melodram und weckt Gefühle in Komödien wie Tragikomödien. Sogar im Musical, in Musik- oder Varietéfilmen, im Puppenspiel und in Jugend- oder Heimatfilmen wird die Wanderbühne aufgeklappt, rollt durch Mantel- und Degenfilme und wird in Dokumentarfilmen näher begutachtet. Und am Ende ist sie selbst in Underground- und Experimentalfilmen mit Porno-Elementen zu finden. Ob als Leitmotiv oder Schlüsselmoment – es ist eine inhaltlich, dramaturgisch und ästhetisch reiche Werkschau der Filmgeschichte, die hier zusammenkommt, je nachdem, wie weit man den Begriff der Wanderbühne für die unterschiedlichen Kunst- und Schausteller:innen-Sparten öffnet.

Dabei gibt es nicht „den“ Wanderbühnen-Film. Vielmehr durchquert dieses mobile Genre in seiner ganzen Vielfalt die unterschiedlichsten Filmgattungen und reicht dabei vom Star-Kino bis zum Independent-Film. Das Thema ufert oft über das rein darstellende Spiel auf der umherziehenden Bühne aus. Immer wieder wird auch das Motiv des Zirkus, des Varietés oder des Kuriositäten-Kabinetts gestreift, was in Hinblick auf die tiefe Verwurzelung des Kinos im ambulanten Unterhaltungsbetrieb des 19. Jahrhunderts nicht verwunderlich ist.

Noch immer fasziniert die Wanderbühne: „Das Kabinett des Dr. Parnassus“ (© Concorde)
Noch immer fasziniert die Wanderbühne: „Das Kabinett des Dr. Parnassus“ (© Concorde)

Doch lässt sich über diese Vielfalt der individuellen Filme hinaus eine kollektive Wanderbühnen-Erzählung erkennen, die uns beim Diskurs um die Zukunft des Kinos und der Filmkunst weiterbringen? Gibt es narrative Grundmuster und kulturelle Codes in der Darstellung der Wanderbühne, die sich auf spezifische gesellschaftliche Konstellationen beziehen und damit ihre Wirkmacht erst voll entfalten? Für eine Annäherung an diese Fragen bieten sich insbesondere die erzählerischen Schlüsselelemente an, die sich anhand der Hauptwerke in den verschiedenen Genres identifizieren lassen und Anregung zu einer dezidierten Auseinandersetzung geben sollen – hier der erste Teil.


Das Motiv der Erotik und Demütigung

Den roten Faden in den Sozialdramen, Melodramen und dem frühen Horror- und Phantastischen Film mit seinen späteren Remakes und Verneigungen bildet zweifellos das Element der Erotik und Demütigung – ein Motiv, das bereits Ingmar Bergman für seinen Film „Abend der Gaukler“ (1953) als zentral ansah (Bergman 1991). Wie schon im „Ur-Wanderbühnenfilm“ „Abgründe“ (siehe Essay Teil 2) angelegt, wirken die Filme oftmals wie eine Parabel von Menschen, die an der Liebe scheitern. Sie leben am Rand und zugleich mitten in der Gesellschaft, in die sie mit ihrer umherziehenden Bühne geraten, meist in purer Armut.

Im Mittelpunkt stehen vielfach erotische und in gleichem Maße quälende Liebeskonstellationen zwischen Frau und Mann, die sich entweder innerhalb des Ensembles oder in Verquickung mit Außenstehenden entfalten. Eine oder einer von ihnen steht meist für das „bessere“ oder bürgerliche Leben und setzt das Ringen um persönliche Erfüllung der Entwurzelten in Gang. Oftmals sind es Kammerspiele in der knarrenden Koje, die sich in zahlreichen Filmen wiederfinden, wie in „Varieté“ (1925) von Ewald André Dupont zwischen dem heruntergekommenen Reeperbahn-Besitzer Holler (Emil Jannings) und der jungen Waisen Berta-Marie (Lya de Putti), für die er Frau und Kind verlässt, bis sie ihn mit einem Artisten aus dem Wintergarten-Varieté öffentlich vorführt und er aus Eifersucht zum Mörder wird. Oder in „Der Wanderschauspieler“ (1934) von Yasujirô Ozu und seinem gefeierten Remake „Abschied in der Dämmerung“ (1959), in denen die Geliebte des Direktors eines ärmlichen umherziehenden Kabuki-Ensembles aus Rache um seinen verheimlichten Sohn mit einer „Bürgerlichen“ diesen mit ihrer hübschen Schauspiel-Kollegin verkuppelt, um ihm das Herz zu brechen.

Besonders berührend gestaltet sich die Beziehung in „Freaks“ von Tod Browning, der zu Unrecht als „Horrorfilm“ deklariert und damit lange um seine Bedeutung als vielfach zitierter Outsider-, diverser und inklusiver Film gebracht wurde, weil er authentische Einblicke in das Leben von Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen gibt. Hier ist es der kleinwüchsige Hans (Harry Earles), der im Kuriositäten-Kabinett auftritt und sein Herz an die hintertriebene Tänzerin Cleopatra (Olga Baclanova) verliert. Seine Braut gibt ihn bei ihrer Hochzeit jedoch vor dem Ensemble der Lächerlichkeit preis und will ihn anschließend ermorden, um sich zu bereichern.

Die „Familie“ der Außenseiter in „Freaks“ (© IMAGO / Ronald Grant)
Die „Familie“ der Außenseiter in „Freaks“ (© IMAGO / Ronald Grant)

Wie Hans und Cleopatra in „Freaks“ sind viele Figuren dabei voneinander emotional und materiell abhängig, so auch in Frederico Fellinis „La Strada“ die kindlich-naive Gelsomina (Giulietta Masina) und der grobschlächtige, kettensprengende Schausteller Zampanò (Anthony Quinn), an den sie von ihrer Mutter verkauft wird. Oder der erfolglose Zirkusdirektor Albert (Åke Grönberg) und seine junge Frau Anne (Harriet Andersson) in „Abend der Gaukler“, bei dem sich Ingmar Bergman von „Varieté“ inspirieren ließ. Beide Hauptdarstellerinnen lebten übrigens auch real mit den jeweiligen Regisseuren zusammen; Bergman wies explizit auf die autobiografische Komponente hin, die in das Drehbuch eingeflossen sei (Bergman 2018).

Es ist immer wieder diese Verschmelzung von Privatem und Öffentlichem, vom Sehen und Gesehenwerden – auch mittels solcher autobiografischen Bezüge –, die Einzug in die Geschichten erhält. In der Eröffnungsszene von „Abend der Gaukler“ wird der Pierrot Frost (Anders Ek) von seiner Frau Alma (Gudrun Brost), die gleich mit einem ganzen Regiment von Soldaten nackt im Meer poussiert, in grotesker Übertreibung buchstäblich zum Narren gemacht.

Der Wanderbühnenfilm spart dabei nicht an der Überzeichnung des Publikums und der Kolleg:innen als drängender Mob, welcher der Bühne räumlich wie emotional ganz nahe kommt und die nicht enden wollenden Demütigungen befeuert. Die Hierarchie und Hackordnung der Schausteller untereinander sind dabei Antrieb der Geschichte: Der eine blickt in den sauberen Garderobenspiegel, der andere in die schmutzige Pfütze, wie es in „Abend der Gaukler“ dramatisch in Szene gesetzt wird. In „The Matinee Idol“ (1928), einem frühen Stummfilm von Frank Capra, wird das Thema sogar humoristisch interpretiert. Hier verkörpert Don (Johnnie Walker) einen „Blackface“-Star am Broadway, der durch sein schwarz geschminktes Gesicht mit der ahnungslosen Ginger (Bessie Love) und ihrer Provinzschauspieler-Truppe sein Liebes-Doppelspiel, natürlich in aller Öffentlichkeit, treibt.

Zum Narren gemacht: der Pierrot in „Abend der Gaukler“ (© StudioCanal)
Zum Narren gemacht: der Pierrot in „Abend der Gaukler“ (© StudioCanal)

Das Motiv des Menschen als Monster

In den grotesken Kammerspielen des Horrorfilms fokussiert die Wanderbühne wiederum stärker auf die gesellschaftlichen Außenseiter mit ihren deformierten Körpern, die sie vor und hinter der Bühne ins grelle Licht setzt. Es ist der Mensch als Monster, der hier in all seinen Facetten verhandelt wird. Die Erzählung changiert zwischen den vermeintlichen Ungeheuern auf der Bühne, ihren (Zur-)Schausteller:innen und dem monströsen Publikum, das aus den Vorgeführten erst die Monster macht.

Dieser zentrale Topos findet sich schon früh in dem einflussreichen expressionistischen Film „Das Cabinet des Dr. Caligari“ (1920) von Robert Wiene, in dem Dr. Caligari (Werner Krauß) den Somnambulen Cesare (Conrad Veidt) in seiner Totenstarre tagsüber auf dem Jahrmarkt ausstellt und nachts auf den Straßen morden lässt. Von „Der Mann, der lacht“ (1928) von Paul Leni – der Verfilmung des gleichnamigen Romans von Victor Hugo und eine Inspiration für die Figur des „Jokers“ – über „Freaks“ bis hin zu „Der Elefantenmensch“ (1980) von David Lynch zeigt sich die düstere Seite der umherziehenden Freakshow, die andersartige Menschen missbraucht, betrieben von skrupellosen Besitzern und begafft von geifernden Zuschauern.

Zweifellos ist dies eine noch immer höchst aktuelle Metapher für manch entmenschlichendes Spiel der Sensationen im Theater-, Show- und Filmgeschäft und in der Liebe, die sich auch jüngst bei „Nightmare Alley“ von Guillermo del Toro (2021) wiederfindet: der gebrochene Stan (Bradley Cooper), der am Ende als irrer „Geek“ lebendige Hühner verspeist. Es ist eine Reminiszenz an die böse Cleopatra aus „Freaks“, die geteert und gefedert sowie ihrer einst verführerischen Gliedmaßen beraubt, als quasi dumme Gans ihr restliches Dasein in der Höllen-Show fristen muss. Und wieder ist es die Wanderbühne mit ihrer eigenen Hackordnung.

Entmenschlichende Sensationen: „Nightmare Alley“ (© 20th Century Studios/Walt Disney)
Entmenschlichende Sensationen: „Nightmare Alley“ (© 20th Century Studios/Walt Disney)

Auf die Hörner nimmt dies „Blancanieves“ (2012) von Pablo Berger, in dem die öffentlich verehrte Stierkämpferin Schneewittchen ihren Kampf in der Arena gegen einen Stier verliert und in einem Panoptikum von zahlenden Verehrern aus dem Koma vermeintlich zum Leben wachgeküsst werden kann. Doch der Schein trügt, denn ihre allabendliche Auferstehung geschieht nur künstlich über eine hochfahrbare Bahre, durch die sie ihre Augen öffnet – Unsterblichkeit und Starruhm als öffentliche Zwangsprostitution, oder wie es Victor Hugo in „L’homme qui rit“ ausdrückt: „C’est de l’enfer des pauvres qu’est fait le paradis des riches“, das Paradies der Reichen ist aus der Hölle der Armen gemacht. Aktueller könnte das Thema mit Blick auf das Fernsehen, das sich dem Eskapismus zwischen obszönem Starkult und Dschungelcamp verschrieben hat, nicht sein. Das Kino jedenfalls ist damit nicht totzukriegen. Und das liegt auch an der hohen Qualität und Selbstreflexion dieser unvergessenen Wanderbühnenfilme.

Fortsetzung folgt!


Mit Dank an Florian Kaiser von der Wanderbühne Theater Carnivore für die Initiation des Themas.


Literaturhinweise

Bergman, Ingmar (2018): Laterna Magica – Mein Leben. Alexander Verlag Berlin.

Bergman, Ingmar (1990). Bilder. Kiepenheuer & Witsch, Köln.

Hugo, Victor (1869/1963): L’Homme qui rit. Paris, Seuil.


Hinweis

Die Essayreihe „Die Zukunft des Kinos“ von Morticia Zschiesche entsteht im Rahmen des Siegfried-Kracauer-Stipendiums, das der Verband der deutschen Filmkritik zusammen mit MFG Filmförderung Baden-Württemberg, der Film- und Medienstiftung NRW und der Mitteldeutschen Medienförderung (MDM) jährlich vergibt. Die einzelnen Beiträge von Morticia Zschiesche und viele andere Texte, die im Rahmen des Siegfried-Kracauer-Stipendiums in früheren Jahren entstanden sind, finden sich hier.

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