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Filmklassiker: "Zwischen den Zeilen"

Der Film der Independent-Pionierin Joan Micklin Silver ist zusammen mit ihrem Debüt "Hester Street" beim Streamingdienst MUBI zu entdecken.

Veröffentlicht am
08. Mai 2023
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Die Filmemacherin Joan Micklin Silver wurde in den 1970ern mit ihrem Debüt „Hester Street“ (1975) und „Zwischen den Zeilen“ (1977) zur Pionierin des US-Independent-Kinos; beide Filme stemmte sie mit der gemeinsam mit ihrem Mann gegründeten eigenen Produktionsfirma Midwest Films. „Zwischen den Zeilen“ kreist, festgemacht an der Redaktion einer alternativen Zeitung, um die Desillusionierung der 1968er-Generation in den 1970ern und ist derzeit, wie „Hester Street“, beim Streamingdienst MUBI neu zu entdecken.


Der 1976 vollendete John Hancock Tower misst 241 Meter und ist damit bis heute das höchste Gebäude von Boston. Er gehört einem großen Versicherungsunternehmen. Sechzig Stockwerke türmen sich über der benachbarten Trinity Church und verkörpern ein Zeitalter, in dem sich der Glaube besser nicht der Macht in den Weg stellt.

Die Träume sind ausgeträumt

Joan Micklin Silvers melancholische Komödie „Zwischen den Zeilen“ von 1977 beginnt mit Luftaufnahmen des damals gerade erst eröffneten Monolithen. Der Helikopter mit der Kamera umkreist das gewaltige, seine Umgebung widerspiegelnde Gebäude einmal, dann wird zu einem einsamen, etwas verlorenen Mann in seinem Schatten überblendet. Er verkauft Zeitungen, die keiner so recht will. Auch ihn will keiner; gespielt wird er von Michael J. Pollard, bekannt etwa aus „New Hollywood“-Filmen wie „Bonnie & Clyde“. Ein markantes Gesicht, aber kein Blickfang wie Jean Sebergs Zeitungsverkäuferin in „Außer Atem“, und statt der „New York Herald Tribune“ verkauft er die alternative Zeitung „Back Bay Mainline“. Deren Mitarbeiter stehen im Zentrum des Films.

Großer Turm versus Kleiner Mann, Establishment versus Individuum - damit ist der zentrale Konflikt beschrieben. „Zwischen den Zeilen“ zeigt die Generation der 1968er, die in den 1970ern ihre Revolutionsfantasien nach und nach aufgibt. Irgendwann waren alle Träume von einer neuen Welt geträumt, und die Menschen mussten immer noch ihre Steuererklärung machen, den Müll rausbringen und Geld verdienen. Die Konstruktion des John Hancock Tower begann im Herbst 1968.

Traurige Verwandlungen

Das Werk der amerikanischen Regisseurin Joan Micklin Silver ist voll von traurigen Verwandlungen. In ihrem Debütfilm „Hester Street“ erzählt sie von der jüdischen Gemeinde an der New Yorker Lower East Side am Ende des 19. Jahrhunderts. Es ist die Geschichte einer Assimilation, in der europäische Traditionen nicht lange Bestand haben gegen die neue amerikanische Realität, die die ursprüngliche Identität vereinnahmt.

Und auch in diesem, ihrem zweiten Film, ist alles bestimmt von den Resten eines alten Glanzes. Die „Mainline“ hat besser Zeiten gesehen und steht kurz vor dem Verkauf an einen großen Konkurrenten. Die langsam ermattende Boomer-Generation antizipiert schon das Slackertum der Generation X, einige der Dialoge könnten auch von Richard Linklater oder Kevin Smith stammen. Die Sehnsucht nach der „guten alten Zeit“ beginnt lange vor expliziten Nostalgie-Produkten wie etwa Lawrence Kasdans „Der große Frust“ (1983). Auch wenn die größte Heldengeschichte des amerikanischen Journalismus, die Aufklärung des Watergate-Skandals, nur wenige Jahre zurückliegt, sind die Figuren weit weg von „Die Unbestechlichen“ aus dem Vorjahr. Sie erinnern eher an die lustlosen Teenager aus „Das Empire Team“ zwanzig Jahre später. Auch wenn der Ausverkauf kurz bevorsteht, private Liebeleien und schlurfiger Hedonismus sind wichtiger.

Abbie (Lindsay Crouse) etwa ist in einer On-Off-Beziehung mit Chefreporter Harry (John Heard). Der hat den Glauben an seine Profession verloren. Musikkritiker Max (Jeff Goldblum) schlägt sich weniger mit Texten als eher mit dem Verkauf von Schallplatten durch, auch Michael (Stephen Collins) schreibt statt an Artikeln lieber an seinem Buch. Vielleicht zieht er bald nach New York. Der junge David (Bruno Kirby) jagt der großen Enthüllungsgeschichte nach, wird aber von seinen Kollegen nicht ernst genommen.

Die Party ist vorbei

Das Ensemble ist voll von späteren Stars, die man sofort als solche erkennt. Allen voran Jeff Goldblum, dem jeder Raum nach einem maliziösen Funkeln zu Füßen liegt. Der Ensemblefilm besteht vor allem aus kleinen Episoden. Die großen Kämpfe sind Trivialitäten gewichen: Der Kaffee-Automat funktioniert nicht mehr, Artikel werden abgelehnt, die Gehaltserhöhung passt nicht ins Budget. Die radikalste Geste, die noch bleibt, ist, den Chef mit Gummipfeilen zu beschießen. Über diese Jahre werden sie später keine Lieder schreiben. Man sieht es in den eben noch jungen Gesichtern, man hört es in den verbitterten Wortgefechten: Die Party ist vorbei. Der Summer of Love liegt ein Jahrzehnt zurück, und die ehemaligen Hippies planen Karrieren und richten sich in traditionellen Beziehungen ein. Sex, Musik und Feiern haben das utopische Moment verloren. Alle Bewegungen richten sich nach innen und füttern einen gierigen Narzissmus.

Die Figuren des Films sind deshalb nicht unbedingt Sympathieträger. Viele sind egomanische Großmäuler, deren einzige politische Kategorie ihre eigene Freiheit ist. Andere haben sich in ihrem Scheitern eingerichtet; weil sie die Welt nicht retten konnten, muss sie dem Untergang geweiht sein. Als Regisseurin hebt Joan Micklin Silver dabei oft die Exzesse gekränkter Männlichkeit hervor. Der apodiktische Individualismus von Harry und Michael etwa mag einmal etwas Widerständiges in sich getragen haben, heute unterwerfen sie sich dadurch einer Ordnung, die Menschen voneinander trennt. Positivere Heldinnen wie Abbie dringen über die Grenzen ihres Egos zu ihren Mitmenschen durch.

Ein gutes Gleichgewicht aus Kritik und Zuneigung

In einer bezeichnenden Szene interviewt Harry eine Stripperin. Auf seine vorhersehbaren Fragen, etwa nach ihrem Sexleben, schiebt sie Allgemeinplätze vor. Aber Abbie, die eigentlich nur als Fotografin dabei ist, entwickelt schnell eine Verbindung zur Tänzerin. Später streitet das Paar, und es wirkt fast, als wäre Harry ein wenig neidisch auf die Fähigkeit seiner Freundin, den Menschen offen zu begegnen. Silvers Entzauberungskino findet ein gutes Gleichgewicht aus Kritik und Zuneigung, Spott und Respekt. Ihr Stil ist nicht unbedingt aufregend, ihr Handwerk hat sie an Lehrfilmen geschult. Aber er passt perfekt zu der entspannten Hangout-Atmosphäre der Komödie. Selbst die Bilder wirken mild, ein wenig erschöpft.

Weil der Film visuell so schlicht bleibt, drohen die anfänglichen Wolkenkratzer-Bilder noch nachhaltiger. In jede Einstellung ragt so auch das reflektierende Gebäude als Symbol moderner Subjektivität. Für ein Leben im Spiegelpanzer, der alle anderen nur als Verlängerung des eigenen Ichs erkennen kann.



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