© Grandfilm (Szene aus "The Event")

Energie-Überschuss

Über die Doku­mentarfilme des ­ukrainischen Regisseurs Sergei Loznitsa

Veröffentlicht am
16. März 2023
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Zwischen November 2013 und Februar 2014 drehte der ukrainische Dokumentarfilmemacher Sergei Loznitsa seinen meisterhaften Dokumentarfilm "Maidan" auf dem gleichnamigen Platz in Kiew. Bereits im Mai 2014 lief der Film beim Festival in Cannes. Die Spannung zwischen Loznitsas betont sachlicher Form und den aufpeitschenden Emo­tionen auf der subtil gestalteten Tonspur ließen das Entstehen einer Revolution hautnah miterleben. Nun folgt mit "The Event" ein Archivfilm über den gescheiterten Putschversuch in Russland im Jahr 1991. Anlass für eine ­Würdigung von Loznitsas außergewöhnlichem ­dokumentarischen Schaffen.


Vor dem Mariinski-Palast in Leningrad (heute St. Petersburg) lauscht eine Gruppe Menschen einem Radio. Die Sprecherstimme verkündet, dass ab dem 19. August, 4 Uhr nachmittags Moskauer Zeit, der Ausnahmezustand verhängt werde. Der Dokumentarfilm "The Event" von Sergei Loznitsa versetzt den Zuschauer zurück in die Zeit dieses heute nahezu vergessenen Ereignisses kurz vor Ende der Sowjetunion, als hochrangige Funktionäre der KPdSU im August 1991 gegen Michail Gorbatschow putschten. Eine kurze Autofahrt vorbei an einer Menschenmenge auf dem Newski-Prospekt endet mit einem Schnitt in eine weitere Versammlung.

Das erste, was auffällt, sind die vielen Menschen, die von den sich überschlagenden Ereignissen auf die Straßen gelockt wurden, ohne recht zu wissen, was geschieht und was sie tun sollen. Spontan versammeln sie sich um Radios oder einzelne Redner, bauen Barrikaden, auf denen steht: "Der Faschismus wird nicht siegen."


Ein Ereignis: Die vielschichtige ­Tonspur

Knapp 50 Jahre früher. Eine Szene aus Loznitsas Dokumentarfilm "Blockade", der von der Belagerung Leningrads durch die Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg erzählt. Durch eine Straße in St. Petersburg ziehen gefangene deutsche Soldaten. An der Spitze der Gruppe und um sie herum sowjetische Soldaten, die Gewehre mit aufgepflanztem Bajonett im Arm. Links und rechts der ­Soldaten sammeln sich allmählich Passanten, die die nunmehr machtlosen Belagerer der Stadt misstrauisch beäugen. Je größer die Straßen werden, desto größer wird die Menge der Zuschauer. Die ­sowjetischen ­Soldaten werden erkennbar nervöser, blicken immer häufiger nach links und rechts. Zwischen einer Zuschauerin, die etwas ruft, und einem sowjetischen Soldat kommt es zu einem kurzen Wortwechsel.

Als die Menge die Kasaner Kathedrale auf dem Newski-Prospekt passiert, sind die Soldaten auf den Bildern kaum noch auszumachen. Aus der Ziellosigkeit der Menschen in "The Event" und aus der Szene aus "Blockade" spricht der gleiche Energie-Überschuss: ziellose Energie, die auf Entladung wartet. Sowohl in "The Event" als auch in "Blockade" montiert Sergei Loznitsa fremdes Filmmaterial; bei "The Event" stammt es von acht Kameramännern, gedreht in Leningrad während der Zeit des Putsches; das Material zu "Blockade" stammt von Armee-Kameramännern.

Beide Filme sind in Schwarz-weiß gehalten; bei beiden Filmen ist die Tonspur das Ergebnis einer Montage des Regisseurs. In "Blockade" sind die Aufnahmen mit Geräuschen und Stimmengewirr unterlegt, bei "The Event" besteht die Tonspur aus diversen Tonaufnahmen aus der Zeit des Putsches.

Beide Filme widmen sich zentralen Bruchstellen der sowjetischen bzw. russischen Erinnerungskultur. Die realistische Darstellung der Blockade Leningrads, eines der großen Kriegsverbrechen der Wehrmacht nach dem Überfall auf die Sowjetunion, wurde kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs in der Sowjetunion zum Tabu. Der Putschversuch vom August 1991 ist eine ungeliebte Episode der Zerfallsgeschichte der Sowjetunion. In der rückblickenden Sowjet-Nostalgie ist der Putsch, mit dem die Putschisten unter anderem die Unterzeichnung des Unionsvertrags und den Zerfall der Sowjetunion verhindern wollten, ein schwieriges Kapitel. Keiner der Putschisten wurde verurteilt. Die meisten nahmen 1994 eine Amnestie der Duma an. Der ehemalige stellvertretende Verteidigungsminister Walentin Warennikow bestand auf ein Verfahren und wurde im selben Jahr freigesprochen.


Filme aus der russischen Provinz

Sergei Loznitsa nähert sich diesen Ereignissen mit scheinbarer Unmittelbarkeit. Vor allem das Filmmaterial suggeriert einen direkten Blick auf die Ereignisse. Die hinzumontierte Tonspur unterstützt zunächst diesen Eindruck. Beim genauen Hinhören aber ergeben sich Zweifel: über den Status des Gesehenen, das Misstrauen gegenüber dem Gesehenen. Dies prägt Loznitsas Filme von Beginn an. In einem seiner ersten Filme, "Segodnya my postroim dom" (»Heute bauen wir ein Haus«), den er 1997 gemeinsam mit Marat Magambetov drehte, sieht man Bauarbeiter auf einer Baustelle. Die Bauarbeiten an dem Haus vollziehen sich vor den Augen der Zuschauer, doch es scheint, als ginge es nicht recht voran. Dennoch: Am Ende ist das Haus fertig.

Der Film war die erste Arbeit nach Loznitsas Studium an der Moskauer WGIK. Geboren als Kind zweier Mathematiker in Weißrussland, wuchs Loznitsa in der Ukraine auf. Nach einem Studium der angewandten Mathematik arbeitete er am Institut für Kybernetik in Kiew. 1991 bewarb er sich an der Moskauer WGIK und studierte bis zu seinem Abschluss 1997 an der Hochschule unter anderem bei der georgischen Regisseurin Nana Dzhordzhadze. 2001 zog Loznitsa nach Deutschland.

Auf "Heute bauen wir ein Haus" folgte eine bis heute in loser Folge fortgeführte Reihe von Filmen aus der russischen Provinz: "Zhizn, osin" ("Leben, Herbst", 1999) realisierte Loznitsa erneut gemeinsam mit Marat Magambetov. Magambetov studierte ebenfalls an der WGIK bei Dzhordzhadze und schloss sein Studium 1997 ab. Produziert wurde "Leben, Herbst" von der Leipziger Produktionsfirma pop tutu film. Der Film handelt von einem Dorf in der Nähe von Smolensk, dem es trotz akuten Mangels an nahezu allem nicht so schlecht geht, wie es zu erwarten wäre. "Polustanok" ("Haltepunkt", 1999) zeigt Schlafende in einer Bahnhofshalle einer Provinzstation. "Poselenie" ("Der Ort", 2001) dokumentiert das Leben in einer psychiatrischen Siedlung.

In "Portret" ("Porträt", 2002) zeigt Loznitsa die russische Landbevölkerung in Bildern, die an die Porträtfotografie vom Anfang des 20. Jahrhunderts erinnern; in "Paysage" ("Landschaft", 2003) filmt eine Kamera in Dauerbewegung Wartende an einer Bushaltestelle, greift Fetzen von Alltagskommunikation auf. "Landschaft" ist in mehrerer Hinsicht ein Wendepunkt in Loznitsas Werk: der erste Farbfilm und zugleich die erste Kooperation mit Toningenieur Vladimir Golovnitzkiy, mit dem die Tonspur für Loznitsa noch einmal an Bedeutung gewinnt. Nach einem Ausflug in die "Fabrik" ("Fabrika", 2004) folgt 2005 "Blockade", Loznistas erster Film, der sich einem historischen Thema widmet. "Revue" ("Die Vorstellung"), drei Jahre später fertiggestellt, ist einer der faszinierendsten Filme Loznitas: Der Film montiert Aufnahmen aus sowjetischen Propagandafilmen zu einem verdichteten Selbstporträt der Sowjetunion. Zugleich ist er in seiner Kombination von Arbeitsszenen, Interviews, Theateraufnahmen und den Ritualen des Alltags ein Einblick in die Bildwelten von Propaganda.


Das Gezeigte offenbart das Muster des Gezeigten

Nach »Die Vorstellung« reiste Loznitsa für »Northern Light« in die kalte russische Provinz 1.000 Kilometer nördlich von St. Petersburg, um das Leben im karelischen Dorf Sumskoy Posad zu filmen. Darauf folgten die bislang einzigen Spielfilme Loznitsas: "Mein Glück" ("Schastye Moe", 2010) über den Lastwagenfahrer Georgy und "Im Nebel" ("V tumane", 2012) über eine Episode aus dem sowjetischen Widerstand im Zweiten Weltkrieg.

Nach eigenem Bekunden arbeitet Loznitsa seit einiger Zeit an einer spielfilmischen Annäherung an das Massaker von Babij Jar. Nach diesem kurzen Ausflug in die Welt des fiktionalen Films kehrt Loznitsa mit "O Milagre de Santo Antonio" ("Das Wunder des heiligen Antonius", 2012) wieder zum Dokumentarischen zurück. Der Film begleitet die Vorbereitungen für die Feierlichkeiten zu Ehren des Heiligen im portugiesischen Santo Antonio de Mixoes da Serra im Norden Portugals. Erstaunlich flink weicht die Ruhe des Dorfs den Vorbereitungen für die Feierlichkeiten. Nach dem Kirchgang finden die eigentlichen Feierlichkeiten auf dem Marktplatz statt, mit Predigt, Pferderennen, Blaskapelle.

Der Film fällt nur scheinbar aus Loznitsas Filmografie, die sich geografisch bis dahin auf das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion beschränkte. Blickt man von "Maidan" (2014), der die Proteste auf dem gleichnamigen Platz in Kiew begleitet, und "The Event" auf "Das Wunder des heiligen Antonius« zurück, fallen die verbindenden Elemente auf: Es ist der erste Film Loznitsas, der größere Menschenmengen bei einem Ritual beobachtet (und nicht nur wie in "Die Vorstellung" Archivmaterial aufgreift). Die Massenszenen in "Maidan" und "The Event" ähneln jenen in "Das Wunder des heiligen Antonius" insofern, als die Individuen in ihnen stabilisiert scheinen. Die Menschen vor der Bühne auf dem Maidan wirken ebenso wie die Menschen bei den Kundgebungen vor dem Mariinski-Palast, in denen die Empörung über die Putschisten gegen Ende von "The Event" kanalisiert wird, frei von dem Überschuss an Energie, der aus den Bildern am Anfang gesprochen hat. Der ziellose Aktionismus der Individuen wurde in eine Massendemonstration kanalisiert.

Loznitsas Filme gehen nie in ihren Themen auf. Seine historischen Filme sind keine Geschichtsstunde, seine Filme aus der Provinz sind zugleich Studien über Strukturen menschlichen Miteinanders. Der Verzicht auf einen Kommentarton, die Strenge der fotografischen Anordnung wie in "Porträt" und die verfremdeten Tonspuren dienen sämtlich dazu, den Blick über das Gezeigte hinaus auf die Muster des Gezeigten zu weiten. Dies zu tun, ohne das Konkrete des Gezeigten gering zu schätzen, ist ein Teil der großen Kunst der Dokumentarfilme von Sergei Loznitsa.

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