© Richard Hübner / Berlinale 2024

Martin Scorsese - Der Größte

Eine Hommage: Martin Scorsese in 80 Beobachtungen

Veröffentlicht am
04. März 2024
Diskussion

Bei der Berlinale 2024 wurde Martin Scorsese mit einem "Ehrenbär" für sein Lebenswerk geehrt. Wie wenige andere Regisseure hat er sich mit seiner Persönlichkeit, seinen virtuosen Arbeiten und seiner schieren Leidenschaft fürs Kino in die Filmgeschichte eingeschrieben. Vor allem den Gangsterfilm hat er geprägt und von existenzieller Verlorenheit erzählt, doch in seinem Oeuvre war stets Raum für mehr: für Familienauftritte, italo-amerikanische Kultur, Musik, Mode, Geld, Autos, Essen und immer wieder das Kino selbst. Eine Hommage in 80 Beobachtungen.


1.

Martin Scorsese, das sind zunächst einmal Modetipps für fehlgeleitete Teenager (männlicher Natur). Baumelnde Goldketten („Goodfellas“), schmierige Anzüge („Casino“), Militärjacken („Taxi Driver“), sündhaft teure Uhren („Casino“), Boston Celtic Caps („Departed - Unter Feinden“). Seine Figuren tragen ihren Möchtegern-Status auf der Haut. Auch vielsagende Vulgär-Tattoos dürfen da nicht fehlen. Die Figuren zeigen, wer sie sind, als wären sie auf Instagram, allerdings sind ihre Moralvorstellungen nicht gerade massentauglich.

2.

Die Moral hat Scorsese ganz einfach für sich definiert. Sie lautet ungefähr so: Es geht mal aufwärts und irgendwann auch wieder abwärts. Eine wirkliche Moral gibt es nicht. „Ob man Gangster ist oder Polizist, wenn jemand mit einer geladenen Waffe in dein Gesicht zielt, wo liegt der Unterschied?“, formuliert das etwa die von Jack Nicholson gespielte Figur in „Departed“. Mal wird Verbrechen bestraft, dann nicht. Mal werden Helden belohnt, dann wieder nicht. Wenn es so etwas wie eine Moral gibt, ist es die, dass es allen Übeltätern mindestens genauso schlecht geht wie dem Rest.

3.

Scorseses Film Silence“ dreht sich letztlich nur um diese Frage: Was bringt Moral? Was bringt es zu glauben? Dass diese Frage nicht eindeutig zu beantworten ist, verursacht Leid. Die eigentliche moralische Frage, die Scorsese unentwegt stellt: Soll man gut handeln oder nicht?

4.

Auch wenn Moral (salopp formuliert) nichts bringt, bedeutet sie den Figuren doch alles. Sie gehen in die Kirche („Hexenkessel“), wollen sich von ihren Sünden befreien. Irgendwo tragen sie in sich den unbedingten Wunsch, als gute Menschen zu leben. Das ist ihr Drama.

Martin Scorsese bei den Dreharbeiten zu "Gangs of New York" (imago stock&people)
Martin Scorsese bei den Dreharbeiten zu "Gangs of New York" (© imago stock&people)

5.

Die meisten von Scorseses Figuren wollen Glück im Leben und das übersetzen sie mit „Geld“. Sie wollen Geld verdienen. Das ist einfach. Damit können sich viele identifizieren.

6.

Es gibt wohl keinen Filmemacher, der so viele Geldscheine gefilmt hat. Geld in Händen, in Taschen, auf Tischen, in Schatullen, auf dem Bett, auf nackten Körpern, durch die Luft fliegend. Er zeigt skrupellose Spekulanten („The Wolf of Wall Street“), Hustler („Die Farbe des Geldes“) oder sich verkaufende Sportler („Wie ein wilder Stier“).

7.

Was passiert, wenn jemand kein Geld will? Oft wird es dann noch gefährlicher, unberechenbarer. Geld wird durch Ehrgeiz oder Ruhm (Aviator, The King of Comedy) ersetzt oder durch höhere Ideale (Silence“, „Taxi Driver“) und alles mündet in eine existenzialistische Verlorenheit, einen manischen Friedhof männlicher Ambitionen, auf dem gebrochene Gestalten zur Musik der Rolling Stones verbrennen, aber nicht, ohne noch einige andere Seelen mit in den Abgrund zu zerren.

8.

Wenn es nur eine Sache gäbe, für die Scorseses Werk für alle Zeit erhalten werden müsste, wären es die Aufnahmen, die er von seiner Mutter gedreht hat. Catherine Scorsese spielte so gut, dass sie irgendwann auch für andere Regisseure wie Francis Ford Coppola vor der Kamera stand. Ihre Paraderolle: Mama. Zunächst besetzte ihr Sohn sie in seinem preisgekrönten Studentenkurzfilm „It’s Not Just You, Murray!“.

9.

Ihren größten Auftritt hat Catherine Scorsese jedoch in Goodfellas. Dort empfängt sie ihren Mafioso-Sohn (Joe Pesci) samt dessen „Freunden“ (Robert De Niro, Ray Liotta), um darauf zu bestehen, spät am Abend für die sich eigentlich mitten in einem Mordanschlag befindenden Gangster zu kochen. Irgendwann zeigt sie ihnen ein selbstgefertigtes Gemälde mit einem Hund. Man muss es gesehen haben, um es zu feiern.

10.

Allerdings gibt es einen noch berauschenderen Auftritt von Catherine Scorsese. In der Dokumentation Italianamerican porträtiert Scorsese seine Eltern und unterhält sich mit ihnen über deren Erfahrungen als Migranten in den USA. Scorsese wuchs in den New Yorker Stadtteilen Queens und Little Italy auf. Seine Familie stammt aus Sizilien. Seine Erziehung bezeichnet der Filmemacher als katholisch. Im Film wird gekocht und geflucht und gescherzt, der ganze Dampf, die Lebenslust und Vitalität einer Familie kommt zum Vorschein. Man denkt (und das passiert selten bei Scorsese): So würde man auch gerne leben.

11.

Jedenfalls wird Scorsese ja gerne mit De Niro (neun Spielfilme und ein Kurzfilm gemeinsam) und Leonardo DiCaprio (fünf Spielfilme und ein Kurzfilm gemeinsam) in Verbindung gebracht, aber wenn man ihn über seine Kollaborationen verstehen will, müsste man doch bei seiner Mutter (neun Spielfilme, ein Kurzfilm, eine Dokumentation) beginnen. Weder De Niro noch DiCaprio hätten mit Scorsese eine Pizza bei David Letterman zubereitet. De Niro würde ihre Pizza für die beste der Welt halten, prahlt Mrs. Scorsese im Video. Eine große Familie, das beschreibt schon viel.

12.

Scorsese wird von der Aura eines Unabhängigen umspielt. Seine Wurzeln im „New Hollywood“-Kino, seine klare Positionierung in kulturellen Debatten, sein hochindividueller Stil. Trotzdem dreht er für alle, die ihm genug Geld geben. Netflix, American Express, die Weinstein Company, Freixenet, HBO. Unabhängigkeit ist ein flexibler Begriff. Unabhängigkeit ist hier das, was am Ende dabei herauskommt.

Unabhängigkeit ist eines Haltung: Mike Jagger, Robert Richardson, Martin Scorsese bei "Shine A Light" (imago/United Archives)
Mick Jagger, Robert Richardson, Martin Scorsese bei "Shine A Light" (© imago/United Archives)

13.

Scorsese – das ist auch Ekstase. Ein Kino, das nichts zurückhält, das aus allen Rohren feuert. Adrenalin, Kokain und Paranoia inklusive. Vieles hat mit dem Schnitt und seiner langjährigen Editorin Thelma Schoonmaker zu tun. Man muss sich nur einmal ansehen, was im Schnitt passiert, wenn Eddie Felson (Paul Newman) in Die Farbe des Geldeszum ersten Mal seit Jahren mit einem Queue in eine Kugel stößt. Man hat das Gefühl, der Film explodiert einem ins Gesicht. Eisensteins orgastische Milchsequenzen sind harmlose Zuckungen dagegen.

14.

Scorsese und Schoonmaker lieben schnelle Überblendungen, wie sie im Hollywood der 1940er- und 1950er-Jahre üblich waren. Rotzige Effizienz. Sie schneiden so, als ginge es in den Filmen um Handlung, dabei geht es mehr um die Charaktere und deren innere Konflikte. Es entsteht das Gefühl, dass es vorwärtsgeht, aber eigentlich tritt man auf der Stelle. Daraus entsteht irgendwann ein Schwindel, später Risse; dann wird es interessant.

15.

Eine Überblendung. Wenn Newland Archer (Daniel Day-Lewis) und Countess Olenska (Michelle Pfeiffer) in „Zeit der Unschuld“ allein in der Kutsche fahren und Newland das Handgelenk seiner eigentlichen Liebe küsst, gibt es eine atemlose Folge an Überblendungen. Es ist einer der seltenen erotischen Augenblicke in Scorseses Kino. Ein intimer Moment, in dem das Begehren nicht mehr zurückgehalten werden kann.

16.

Scorseses Filme bewegen sich meist schnell (eine Ausnahme ist Zeit der Unschuld), was zu seiner Sprechgeschwindigkeit passt. Der österreichische Filmemacher Peter Kubelka philosophierte einmal, dass die Schnittgeschwindigkeit eines Filmemachers mit dessen Herzfrequenz zusammenhängt.

17.

Scorseses Filme drehen sich auch um das Kino. Fiktional wie in Aviator oder Hugo Cabret. Dokumentarisch wie in „Martin Scorsese: Eine Reise durch den amerikanischen Film oder „Meine italienische Reise“. Ganz beiläufig wie in entscheidenden Szenen in Kundun oder Kap der Angst. Es gibt Filmemacher, die etwas erzählen und dafür das Kino wählen. Scorsese wählt das Kino und schaut dann, was er erzählt.

18.

Die Wahl der Filme ist dabei zumindest fragwürdig. Travis Bickle führt sein Date in Taxi Driverins Pornokino. Just in einem solchen organisiert der Gangsterboss Frank Costello (Jack Nicholson) in Departed eine geheime Übergabe.

19.

Auch außerhalb seiner Regietätigkeit setzt er sich für die siebte Kunst ein. Als Gründer der Film Foundation und dort insbesondere des The World Cinema Project arbeitet Scorsese nachhaltig für die Erhaltung des internationalen Filmerbes.

20.

Ja, es gibt auch spannende Frauenfiguren in seinem Kino, man muss sie aber auch mit der Lupe suchen. Ellen Burstyns Alice gehört in Alice lebt hier nicht mehrjedoch zu den größten, die das US-amerikanische Kino je hervorgebracht hat. Die Darstellerin hat erzählt, dass sich Scorsese lange nicht traute mit diesem Film. Er würde nichts von Frauen verstehen, gestand er.

21.

Man muss es schon zugeben, dass Scorsese-Filme ein bisschen wie ein Männerclub sind; sie schauen manchmal wie eine Mischung aus Männermagazinen, Autorennen und einem kalten Bier in der Billardhalle aus.

Männerclub: Martin Scorsese, Harvey Keitel, Robert De Niro (imago/Cinema Publishers Collection)
Männerclub: Martin Scorsese, Harvey Keitel, Robert De Niro bei "Taxi Driver" (© imago/Cinema Publishers Collection)

22.

Es gibt mehr Szenen bei Scorsese, in denen von Frauenkörpern Kokain in die Nase gezogen wird, als Szenen, in denen kein Mann zu sehen ist.

23.

Hier folgt eine Liste der Genres, in und mit denen Scorsese gearbeitet hat: Gangsterfilm, Historienfilm, Musical, Kinderfilm, Sportfilm, Musikfilm, Konzertfilm, Filmessay, Thriller, Komödie, Monumentalfilm, Drama. Er hat bis heute keinen Western gedreht, auch wenn Gangs of New York sicherlich Elemente dieses Genres in sich trägt.

24.

Der sich seit Jahren in Entwicklung befindende und wohl 2023 startende Killers of the Flower Moonmit Leonardo DiCaprio ist, nun ja, unter anderem ein Western.

25.

Hier eine typische Scorsese-Szene: Ein Mann betritt einen großen Raum. Künstliche Beleuchtung, irgendwelche schrillen Farben, aber Dunkelheit dominiert. Musik zwischen Blues und Rock’n’Roll. Die Kamera dreht sich untersichtig schnell um den Mann, der langsam um sich blickt. Die Kamera fährt auf sein Gesicht zu. Er schaut, was passiert. Aus dem Off hört man einen Voice-Over, der beschreibt, was man alles hatte und konnte und dass das die Zeiten waren.

26.

Dieses Kino funktioniert oft ähnlich wie das Geschicklichkeitsspiel Jenga. Man sieht dabei zu, wie ein wackeliger Turm errichtet wird, und dann nimmt man Bauteil um Bauteil aus dem Gebilde und wartet darauf, dass alles in sich zusammenfällt.

27.

In vielen Filmen verschwimmen die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fantasie. Man denke an New York, New York, in dem die Bilder aussehen wie aus einem melancholischen Kinotraum, oder an Hugo Cabretund After Hours, die dem Übernatürlichen einen ganz und gar realistischen Raum einräumen. Es geht um die Hingabe an die Kinowelten. Alles ist immer nur ein Filmbild.

28.

In „Wer klopft denn da an meine Tür? kommt die Figur von Harvey Keitel mit einer jungen Frau ins Gespräch, während er ihr allerhand von Kinofilmen erzählt, die sie nicht gesehen hat. Man kann sich vorstellen, dass Scorsese diese Figur nach sich selbst gestaltet hat. Der Filmnerd auf der Suche nach ein bisschen Nähe.

29.

Versucht man Scorseses Bilder mit der Wirklichkeit abzugleichen, gerät manches ins Schleudern. Gewalt und die Identifikation mit dem „Bösen“, rauschhaft geschnittene Montagen, in denen Menschen erschossen werden und manches Verbrechen belohnt wird. Scorsese zeigt eine Welt, in der es oft attraktiver erscheint, kriminell zu sein, als nach den Regeln zu spielen. Man muss seine Filme als Fantasien verstehen. Das ist nicht gerade im Trend, aber es lohnt sich. Das Kino als eine Welt anderer Regeln.

Am Set von "Hugo Cabret" mit Chloe Moretz und Asa Butterfield (Imago/Mary Evans)
Am Set von "Hugo Cabret" mit Chloe Moretz und Asa Butterfield (© imago/Mary Evans)

30.

Oder aber man begreift die Liebe für Mörder und Betrüger als Realismus. Ja, es ist attraktiv. Ja, das Leben der Gangster ist manchmal intensiver, sensibler, erzählenswerter. Manche von ihnen kommen davon. Das Kino hat nicht die Aufgabe, etwas anderes zu behaupten.

31.

Ein Lieblingscharakter: Jimmy Two Times (Anthony Powers) in Goodfellas, so genannt, weil er unablässig mit leichtem Stottern und einer Hand an der Krawatte alles zweimal sagt, zweimal sagt.

32.

Obwohl sich Scorsese in vielerlei Hinsicht dem Analogen verschreibt, gehört er zu den Vorreitern des Digitalen. The Irishman, mit den gelinde gesagt seltsamen Jugendeffekten auf den Gesichtern von De Niro oder Al Pacino erzählt davon genauso wie das 3D in Hugo Cabret. Scorsese war stets ein Pragmatiker. Wenn es ein Mittel gibt, das ihn effektiver zu einen fertigen Film bringt, wird er es nutzen.

33.

Zurück zu den Modetipps. Die roten Jacketts von De Niro aus Taxi Driver und „The King of Comedy“ – man muss sie haben!

34.

Scorsese gilt als Jukebox-Regisseur. Gleich einem DJs mischt er bereits existierende Musik in seine Filme. Zum Beispiel Georges Delerues „Thème de Camille aus Jean-Luc Godards „Die Verachtung“ in „Casino“. Oder zigfach die Rolling Stones, „Be My Baby“ von The Ronettes in Hexenkessel(hier auch diese unwiderstehliche Fähigkeit, mit dem Lied fast ironisch, aber vielleicht doch nicht ganz ironisch zu kommentieren, was auf der Leinwand so gar nicht zu sehen ist), Aretha Franklin in Kap der Angst, diese Liste ließe sich lange fortsetzen.

35.

Vielleicht noch eine Szenen: The Crystals mit „Then He Kissed Me“ in Goodfellasin einer irren Plansequenz, die angehende Filmstudenten entschlüsseln, während sie doch immer wieder beginnen, mitzuwippen und heimlich üben, so wie Ray Liotta Dollarscheine aus den Fingern in die Hände von Kellnern gleiten zu lassen.

36.

Godard spielte übrigens wie die gesamte Nouvelle Vague eine große Rolle für Scorsese. Im Umfeld der ersten Filmschulen und der sogenannten „Movie Brats“ wie Brian De Palma, Francis Ford Coppola oder Steven Spielberg großgeworden, wurde dieses Neue Amerikanische Kino stark von französischen Vorbildern beeinflusst.

37.

In „Wer klopft denn da an meine Tür? drehte Scorsese, der nicht wirklich wusste, wie er eine Sexszene filmen soll, eine solche just so wie Godard in „Eine verheiratete Frau“. Unlängst schrieb Scorsese einen bewegenden Text über sein Vorbild für die „Cahiers du Cinéma“.

38.

Zurück zur Musik. Scorsese drehte auch zahlreiche herausragende Found-Footage-Dokumentationen über Musiker und Konzertfilme. George Harrison, Bob Dylan, The Band und die Rolling Stones wurden unter anderem von Scorsese betrachtet.

39.

„Musik und das Kino sind untrennbar verbunden“, hat Scorsese gesagt und damit sein eigenes Schaffen beschrieben.

40.

Für Michael Jackson drehte Scorsese einst ein 18-minütiges Video zu dessen „Bad“, als eine Art moderner „West Side Story“. Aus diesem Video spricht vieles, was Scorseses Liebe für New York betrifft, jene Stadt, die er öfter filmte als alle anderen.

41.

„New York, New York“. Die engen Treppen vor den Hauseingängen, der Dampf aus der Kanalisation, die Straßenecken und Reklameschilder, die feuchten und verdreckten U-Bahn-Hallen. New York ist der eigentliche Protagonist von Scorseses Kino. Die Geschichte, das Leben dieser Stadt hat er von der Kanalisation bis zu den höchsten Räumen in den Wolkenkratzern gefilmt.

Die Geschichte einer Stadt: "Gangs of New York" (ARD Degeto)
Geschichte und Gesichter einer Stadt: "Gangs of New York" (© ARD Degeto)

42.

Eine große Fähigkeit Scorseses: sein Stil schimmert auch durch die unpersönlichsten Auftragsarbeiten. Man muss sich nur seinen für Chanel gedrehten Werbespot „Bleu de Chanel mit Gaspard Ulliel anschauen. Die Nervosität, der lässige Trotz, das wilde Leben, alles spricht aus dieser in Blau gehüllten Minute, die ganz zweifelsfrei genauso Scorsese gehört wie dem berühmten Parfüm.

43.

Trotz dieser Wiedererkennbarkeit beharrt Scorsese nicht auf seinem Stil. In Filmen wie Zeit der Unschuld oder Kundun oder seinem Kurzfilm „The Key to Reserva zeigt er sich als Chamäleon, das sich ganz und gar dem Stoff anpassen kann.

44.

Was hat es auf sich mit dieser wiederkehrenden Nervosität? Scorseses Figuren sind Getriebene, Manische, Besessene. Sie verfolgen ihre Ziele über die Vernunft hinaus. Sie entführen, lügen, töten, verkaufen ihre Seele, verlieren sich selbst aus den Augen, um irgendwo anzukommen. Sie wissen selbst nicht wo, nur dass sie sich das einmal in den Kopf gesetzt haben. Ein bisschen erinnern diese Helden und Anti-Helden an den gewöhnlichen Bürger neoliberaler Systeme. Bei Scorsese prügeln sich die Neuen Selbstständigen um jeden Cent. Gesund ist das nicht. Alle leiden am Burnout, flüchten sich in abartige Eskapismen, um irgendwie vorwärtszukommen.

45.

Wie weit diese Figuren gehen, um das zu bekommen, was sie wollen, zeigt die etwa 45-minütige Sequenz zu Beginn von New York, New York, in der De Niro als Jimmy Doyle an der Grenze zur Belästigung versucht, die von Liza Minnelli gespielte Francine Evans zu erobern. Das Unangenehme und das Faszinierende gehen hier Hand in Hand.

46.

Identitäten werden angenommen und abgelegt. Man ist bei Scorsese erst wer, wenn man nicht mehr man selbst sein muss. Diese Flucht aus den Fesseln des Ichs begleitet die Filme von Die letzte Versuchung Christibis zu Shutter Island. Diese Männer zweifeln an dem, was sie sind. Sie suchen nach einem Ort, an dem sie etwas anderes sein können. Kaum einer von ihnen kann das annehmen, was er ist. Vielleicht ist das auch eines der schwersten Dinge im Leben: das Akzeptieren einer wie auch immer gearteten Aufgabe.

47.

Ab und an taucht Scorsese selbst in seinen Filmen auf. In Taxi Driver als Taxipassagier, der seine ihn betrügende Frau durch das Fenster beobachtet, zeigt er, dass er auch schauspielerisch die manischen Verhaltensweisen zu zeigen versteht.

48.

Auch in Serien wie „Curb Your Enthusiasm“, „Entourage“ oder „30 Rock“ ist Scorsese aufgetreten. Selbstironie ist ihm nie schwergefallen.

49.

Seinen wohl bedeutendsten Auftritt als Schauspieler legte er jedoch mit rotgefärbtem Bart als Vincent van Gogh in „Akira Kurosawas Träume hin. Dort beschreibt er eine Landschaft und wie sie ihn zum Malen inspiriert. Natürlich spricht er dabei auch über das Filmemachen.

Scorsese als Vincent van Gogh in "Akira Kurosawas Träume" (imago/United Archives)
Scorsese als Vincent van Gogh in "Akira Kurosawas Träume" (© imago/United Archives)

50.

Mit van Gogh hat Scorsese sonst wenig gemein. Er kann sicherlich als urbaner Filmemacher bezeichnet werden. Zwar gibt es in Silence oder Kundungroße Naturaufnahmen, aber die bleibenden Bilder im Werk Scorseses sind allesamt städtisch. Versifften Straßenecken und Reklameschildern kann er mehr abgewinnen als grünen Wiesen. Van Gogh aber hätte sicherlich eine gute Scorsese-Figur abgegeben.

51.

„Eines Tages wird ein schwerer Regen kommen und den ganzen Dreck von den Straßen spülen. Die Spinner, die Freaks, die Gangster, die einem einfachen ehrlichen Mann das Leben zur Hölle machen. Aber mich kriegt ihr nicht klein. Mich nicht“, wie es Drehbuchautor Paul Schrader Travis Bickle in Taxi Driver in den Mund gelegt hat.

52.

Scorsese, das sind auch die schönsten Titelsequenzen. Vor allem jene von Elaine und Saul Bass für Casino und Zeit der Unschuld. Die sich öffnenden Blumen zu Beginn von Scorseses Adaption des Romans von Edith Wharton könnte man sich einen ganzen Tag lang ansehen, und es würde nicht unschöner werden.

53.

Trotzdem muss auch jene Titelsequenz aus Wie ein wilder Stierhier genannt werden. Die ganze Kraft eines menschlichen Raubtiers, in einem Käfig gebannt, im Dunst eines anstehenden Wettkampfs. Dazu die Musik aus Pietro Mascagnis „Cavalleria rusticana”, das Intermezzo, das den ganzen tobenden Irrsinn der literarischen Vorlage von Giovanni Verga in ein einziges Bild und eine unvergessliche Melodie übersetzt. Das Drama des Daseins: darum geht es bei Scorsese. Dass man wird und nicht wird, dass man verglüht, während man sich noch am Zenit wähnt, mit all dem Begehren, all den unerfüllten Wünschen, dem ständigen Anrennen gegen die Mauern der Welt.

54.

Mit dem Adjektiv „opernhaft“ wäre man ohnehin nicht allzu weit von der Wahrheit entfernt beim Expressionisten Scorsese. Die Kamerafahrten in Bringing Out the Dead – Nächte der Erinnerungsind schon so überdreht und virtuos, man kommt aus dem Staunen nur schwer heraus. Die Emotionen werden im Stil mitverarbeitet.

55.

Kein Wunder, dass Scorsese auch große Szenen in Konzert- und Opernhäusern inszeniert hat. Sein an Hitchcock gemahnender Kurzfilm „The Key to Reserva“ wäre da genauso zu nennen wie die herrliche Eröffnungssequenz von Zeit der Unschuld. Das Spiel von Sehen und Gesehen-Werden, Darstellen und großen Gefühlen beherrscht der Filmemacher wie kaum ein Zweiter.

56.

Schriftsteller:innen, die Scorsese adaptiert hat: Edith Wharton, Nikos Kazantzakis, Dennis Lehane, John D. MacDonald, Brian Selznick, Endō Shūsaku, Nicholas Pileggi, Charles Brandt, Herbert Asbury, Jordan Belfort.

57.

Scorseses Filme basieren aber nicht nur auf literarischen Vorlagen. Manche haben bereits existierende Filme zur Grundlage wie Departed („Infernal Affairs“), Die Farbe des Geldes („Haie der Großstadt“) oder Kap der Angst („Cape Fear“, 1962). Wieder andere bilden kleine, lose verbundene Linien innerhalb des Oeuvres von Scorsese, zum Beispiel Hexenkessel“, Goodfellas“, Casino und The Irishman oder Taxi Driver, The King of Comedy und Bringing Out the Dead. Manche sind als Hommage an andere Künstler zu verstehen, zum Beispiel The King of Comedy an Jerry Lewis oder Hugo Cabretan Georges Méliès.

58.

Bislang war noch nicht die Rede von Dante Ferretti. Ohne ihn wäre manche Geste von Scorsese hilflos. Sein Meisterstück lieferte der Szenenbildner, der auch mit Federico Fellini oder Pier Paolo Pasolini gearbeitet hat, mit Aviator. Wie er den berühmten Nachtclub Cocount Grove durch die Jahre hindurch nachbaute und mit Leben füllte, ist kaum hoch genug zu würdigen. Manchmal erahnt man in seinen Sets den Geruch längst vergangener Zeiten.

Scorsese und Leonardo DiCaprio in "Aviator" (Imago/Cinema Publisher Collection)
Scorsese und Leonardo DiCaprio in "Aviator" (© Imago/Cinema Publisher Collection)

59.

Eine Lieblingsszene: Paul Newman steht und schaut in Die Farbe des Geldes. Die Kamera von Michael Ballhaus fährt um ihn herum und Newman dreht sich mit ihr. Man verliert den Boden unter den Füßen, was nur zum Teil an der schwindelinduzierenden Bewegung liegt. Denn was man wirklich kaum glauben kann, ist, dass man die stechend blauen Augen des Schauspielers unter seiner dunklen Sonnenbrille so klar erkennen kann wie einen Bergsee im Sonnenlicht.

60.

In Scorseses Filmen begegnet man häufig choreografierten Massenszenen. Menschengruppen, die sich auf etwas zu- oder wegbewegen, wellenartige Bewegungen, die ins Abstrakte eines Busby Berkeley neigen. Man denke an die Büroszenen in The Wolf of Wall Streetoder die Kampfszenen in Gangs of New York.

61.

Dazu passt auch seine wiederholt eingesetzte Vogelperspektive. Das berühmteste Beispiel hierfür findet sich am Ende von Taxi Driver, wenn die Kamera abhebt, auf die toten Körper herabblickt und die Szene langsam verlässt, als würden Seelen schweben oder aber, als hätte die Kamera keine Kraft mehr, um dort zu bleiben.

62.

Die Kamera kann bei Scorsese überall auftauchen. Er hat sie befreit, und doch würde er nie wagen, den Zuschauer zu überfordern. Er ist der Avantgardist unter den Klassizisten.

63.

Ein wichtiges Element in den Filmen von Scorsese ist die Sprache. Da gibt es zum Beispiel die Voice-Over. Unzuverlässige Erzähler wie in Goodfellas oder Casinobrechen mit den Klischees dieses Stilmittels. Oft sprechen auch verschiedene Menschen aus dem Off. Sie widersprechen sich, beginnen zu streiten und plötzlich wird ihre eigentlich aus einer unbestimmten Zukunft definierte Perspektive mit der Handlung enggeführt und man merkt, dass das, was man da sieht, noch gar nicht passiert ist, nein, es passiert jetzt gerade.

64.

Die Sprache ist sonst oft eine der Straße. Slang, Dialekt und vulgäre Entgleisungen inklusive. Die italo-amerikanischen Eigenheiten werden bis zur Selbstparodie offengelegt. Joe Pescis „How Am I Funny“-Szene in Goodfellasbleibt unvergessen. Die Sopranos wirken stellenweise wie ein einziger Spoof Scorseses.

65.

Hat man einen Scorsese-Film gesehen, beginnt man so zu sprechen wie seine Figuren. Es wird viel gesprochen, und meist wird deshalb geredet, weil die Figuren in der Stille durchdrehen würden.

66.

Der Höhepunkt dieser Sprachartistik gelang Scorsese mit der Figur des Staff Sgt. Bryce Dignam in Departed. Mark Wahlberg verkörpert den Gesetzeshüter als unfassbar schlagfertigen, dauerfluchenden Beleidigungskünstler, der jeden Satz zu einem Zitat macht, das man selbst jederzeit gerne parat hätte.

67.

Man hat das Gefühl, dass manche Drehbuchautoren Gangster nur so sprechen lassen können, wie sie bei Scorsese sprechen. Der Scorsese-Gangster hat den eigentlichen Gangster im kulturellen Gedächtnis längst abgelöst. Das Wort „mook“ (frei übersetzt: Depp) beispielsweise wurde durchHexenkessel popularisiert und taucht in verschiedenen Filmen Scorseses auf.

Bewährtes Team: Scorsese und der Kameramann Robert Richardson bei "Casino" (imago/Mary Evans)
Bewährtes Team: Scorsese und sein Kameramann Robert Richardson bei "Casino" (© imago/Mary Evans)

68.

Eine Liste der Dinge, die in Scorseses Filmen bevorzugt getan werden: sprechen, kochen, schießen, schreien, essen, trinken, lachen, fahren, rennen, stechen, umarmen, gestikulieren, lügen, verstecken, rauchen, Drogen konsumieren.

69.

In diesem Kino gibt es eine Idee von Loyalität und Treue. Das gilt für die Liebe und die Berufswelt gleichermaßen. Das Vertrauen wird eigentlich von den ersten Szenen an hintergangen (auch weil es auf Lügen basiert, weil niemand das ist, was er oder sie vorgibt zu sein) und doch glaubt man wie die Figuren daran, dass es existiert. Das gilt von japanischen Dorfbewohnern in Silence bis zu Sharon Stones Ginger in Casino. Man blickt diesen Menschen ins Gesicht und hofft, dass sie die Wahrheit sagen. Immer wieder, obwohl man es längst besser weiß.

70.

Dementsprechend zeigt die Nahaufnahme bei Scorsese den Zweifel. Keiner verkörpert ihn besser als De Niro, der immer wieder einen Mann spielt, dem man entweder nicht trauen kann, oder aber einen Mann, der niemandem traut.

71.

Einen ganzen Plot auf solchen Lügengebilden hat Scorsese nur in Shutter Island aufgebaut. Dabei spielt jeder seiner Filme in Welten, die sich die Protagonisten nur erträumen.

72.

Das Hollywoodkino liebt Comeback-Geschichten. Alte Helden, die es nochmal mit allen aufnehmen. Spätestens mit The Irishman, aber eigentlich schon mit Wie ein wilder Stier hat Scorsese seine Version dieser Geschichte erzählt. Der alte Mann steht auf, um es allen nochmal zu zeigen. Dann fährt es ihm in den Rücken und er verkümmert in einer Ecke, im Rollstuhl, auf dem moralischen Friedhof.

73.

Irgendwann kommt der Moment, in dem ein Scorsese-Held vor einem Spiegel steht. Das ist etwas platt, zumindest ausgelutscht. Aber vor diesen Spiegeln können diese Figuren ihre Rollen üben, die sie vor der Welt und sich selbst spielen. Am Ende von Wie ein wilder Stier, wenn Jake LaMotta sich selbst zuredet, erkennt man, dass der wahre Boxkampf (nicht nur hier) gegen Schatten geführt wird, die man selbst wirft.

74.

Wer sind diese Menschen denn wirklich? Gibt es das bei Scorsese? Einen Menschen, so wie er wirklich ist? Das ist schwer. Bereits die etwas arg freudianischen Kindheits-Flashbacks in Aviatorzeigen einen Jungen, der von seiner Mutter verändert wird. Vielleicht haben die emotionalen Zusammenbrüche der Figur von DiCaprio in Departed etwas von Wahrhaftigkeit. Wenn man nicht mehr spielen kann, bricht das Ich als zerstörtes Fragment aus einem hervor.

75.

Nochmal zur Mode: Die Sonnenbrille (Ultra Goliath II), die De Niro in der Wüste in Casino trägt, die muss man haben.

76.

Krankhaftes Verhalten wird bei Scorsese nah an einen Begriff der Unschuld geführt. Das sieht man beispielsweise, wenn sich der bedrohliche Übeltäter Max Cady (De Niro) in Kap der Angst der jungen Danielle (Juliette Lewis) nähert. Die beiden verstehen sich auf einer Ebene, die schwer zu erklären ist. Ähnliches gilt für Travis Bickle und Betsy (Jodie Foster) in Taxi Driver oder für die Obsession mit Milchgetränken von Howard Hughes in Aviator. Frank Costello in Departed weiß schon, warum er seine Gehilfen äußerst jung anwirbt.

2016 dreht Scorsese "Silence" nach dem Roman von Endō Shūsaku (imago/ZUMA Press)
2016 dreht Martin Scorsese "Silence" nach dem Roman von Endō Shūsaku (© imago/ZUMA Press)

77.

„Martin Scorsese war ein Autorenfilmer und ist jetzt ein Kommerzfilmer, der völlig uninteressant geworden ist.“ (Michael Haneke)

78.

Noch eine Lieblingsszene, fast beiläufig, eher ein Moment als eine Szene. Als es zu einem Sondereinsatz kommt, kann der von Alec Baldwin gespielte Ellerby seine Freude über den Ausnahmezustand in Departednicht verbergen. Er hüpft umher, ist völlig aufgedreht. Sein Adrenalin, seine irgendwie paradoxe Freude in der Anspannung beschreibt die Junkies in Scorseses Welt, Männer, die nicht ruhig sitzen können, die Abhängigen, die nur funktionieren, wenn sie auf der Rasierklinge reiten.

79.

Das Problem taucht auf, wenn man dabei nicht stirbt. Das zeigt das Ende von The Irishman, eine Art Abbitte Scorseses, in dem die wahrlich traurige, vereinsamte Wirklichkeit der sonst so heldenhaft sterbenden Gangster auf die Spitze getrieben wird. Im Rollstuhl, im Altenheim, in einer Welt, die sich nicht mehr interessiert.

80.

Dieses Kino bedeutet etwas. Das lässt sich wahrlich nicht von allen Oeuvres behaupten. Es hat sich in ein kulturelles Gedächtnis eingeschrieben mit seiner schieren Wucht und Liebe für das, was es zu leisten im Stande ist. Egal, ob man viel oder wenig mit den Filmen Scorseses anfangen kann; wer auch nur ein Fünkchen an dieses Medium, an diese Kunstform glaubt, wird an diesem Mann nicht vorbeikommen. Ein ewiger Stürmer und Dränger, der größte lebende Filmemacher.


(Der Text erschien erstmals am 16.11.2022 anlässlich von Martin Scorseses 80. Geburtstag)

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