1927 verpflichtete der deutschstämmige Universal-Chef Carl Laemmle seine Landsleute Paul Leni und Conrad Veidt, um den Victor-Hugo-Roman „Der Mann, der lacht“ zu adaptieren, ein Melodram um einen Schausteller, dessen Gesichtszüge zu einem ewigen Grinsen entstellt sind. Das vergessene Meisterwerk des Stummfilmkinos, ein Bindeglied zwischen dem deutschen Expressionismus und den Universal-Horrorfilmen, erscheint jetzt als 4k-Restaurierung in einer mustergültigen Edition.
Das Publikum auf dem Jahrmarkt von Southwark johlt und biegt sich vor Lachen. Auf der Bühne hat der Hauptdarsteller des Stücks „Der Mann, der lacht“ gerade den Schal von der unteren Gesichtshälfte gezogen, um sein groteskes Dauergrinsen freizulegen. Gwynplaine (Conrad Veidt) ist der Star der fahrenden Schauspieltruppe; die Enthüllung seiner permanent hochgezogenen Mundwinkel und seiner stets gebleckten Zähne sind der Höhepunkt der Show.
Nur wenige wissen, wie Gwynplaine wirklich zumute ist, seit er als Kind von Zigeunern grausam entstellt wurde. Die Scham über das eigene maskenhaft erstarrte Gesicht steht auch seiner Liebe zu der engelhaften Dea (Mary Philbin) im Weg, die mit der Schauspieltruppe durch England reist. Dea ist blind und erwidert Gwynplaines Gefühle, der sich ihrer Liebe aber als unwürdig erachtet. Könnte sie ihn sehen, glaubt der tragische Held, würde Dea ihn ebenso verlachen wie die sensationsgeile Meute.
„Wenn das wahr wäre“
Als Gwynplaine während einer Vorstellung die Gräfin Josiana (Olga Baclanova) erblickt, die ihn fasziniert und ohne Hohn betrachtet, schöpft der lachende Mann Hoffnung: „Sie sah mein Gesicht… und fühlte doch Liebe zu mir“, heißt es in einem Zwischentitel des fesselnden Stummfilms von Paul Leni, der auf dem Roman „L’homme qui rit“ von Victor Hugo beruht. „Wenn das wahr wäre, dann dürfte ich ja Dea zum Weibe nehmen“, so Gwynplaines Folgerung.
Doch der unbedarfte junge Mann irrt sich in der Gräfin. Josiana, die ihn noch am Abend der Aufführung zum Stelldichein in ihre Gemächer bestellt, ist höchstens sexuell erregt. Die leichtlebige Hofdame will mal einen Freak ausprobieren. Es folgt die großartig inszenierte und gespielte Szene einer Beinahe-Verführung, die zugleich einen Wendepunkt im Drama bringt: Gwynplaine erfährt von seiner adeligen Herkunft. Er wird sich entscheiden müssen, welchem Stand er in Zukunft angehören will.
1923 hatte Universal den „Glöckner von Notre-Dame“
(ebenfalls nach Victor Hugo) mit Lon Chaney in der Hauptrolle produziert, 1925 wurde
die Gaston-Leroux-Romanverfilmung „Das Phantom der Oper“ mit
Chaney zum Kassenschlager. Die zunächst mit Chaney geplante Verfilmung von „Der
Mann, der lacht“ kam nicht zustande, weil das Studio die Rechte an Hugos Roman
nicht rechtzeitig erwerben konnte.
Der deutschstämmige Universal-Chef Carl Laemmle aber hielt an dem Projekt fest und verpflichtete einige Jahre später zwei Landsleute für die Verfilmung: Conrad Veidt als Hauptdarsteller und Paul Leni als Regisseur. Beide sind mitverantwortlich dafür, dass „The Man Who Laughs“ zu einer Art Bindeglied zwischen dem expressionistischen deutschen Film und Universal-Horrorfilmen wie „Dracula“ oder „Frankenstein“ (beide 1931) wurde. „Der Mann, der lacht“ ist selbst kein Horrorfilm, eher ein Melodram vor historischem Hintergrund – der Hauptteil spielt während der Regentschaft von Anna Stuart Anfang des 18. Jahrhunderts in London. Doch es werden praktisch alle zeitgenössischen Filmgenres gestreift. „Der Mann, der lacht“ mündet in einem Abenteuerfilm-Finale mit Massentumult, Fassadenkletterei und Verfolgungsjagd.
Der Film gewährt ein Happy End
Drei Autoren und eine Autorin zeichneten für das Drehbuch verantwortlich. Es muss mühsam gewesen sein, aus Hugos komplexem und weithin unterschätzten Roman ein Skript zu destillieren. Die politische Dimension der transgressiven Titelfigur tritt im Film hinter melodramatischen Aspekten in den Hintergrund. Als Gwynplaine, dessen rebellischer (und adeliger) Vater auf Befehl von König Jakob II. einst hingerichtet wurde, schließlich im „House of Lords“ empfangen wird, hält er im Roman eine flammende Rede wider die Verachtung der armen Bevölkerung durch den Adel. Im Film ist davon nur Gwynplaines Widerstand gegen die Pläne der Königin mit ihm übriggeblieben, sowie seine Erkenntnis, Gottes Geschöpf (und keine Karikatur) zu sein, worauf er sich zum armen Volk bekennt und aus dem Oberhaus flieht. (Eigentlich soll er dort zur Eheschließung mit Josiana gezwungen werden; den sozialen Aufstieg deutet Hugo zur Regression um). Im Roman scheitert die Reunion des Helden mit seiner Theaterfamilie, dort stirbt Dea den Herztod, worauf sich der verzweifelte Gwynplaine ertränkt. Der Film aber gönnt dem Liebespaar ein Happy End.
Neben dem grandios gegen sein mimisches Handicap (eine starre Prothese) anspielenden Conrad Veit, der mit Schultern, Augen und schamvollen Gesten seiner an den Mund geführten Hände auskommen muss, verblasst Mary Philbin als Dea. Die Schauspielerin war als Christine im „Phantom der Oper“ neben Lon Chaney bekannt geworden. Umso stärker sind Olga Baclanova als Josiana, die 1932 das verschlagene Biest in Tod Brownings „Freaks“ gab, und Brandon Hurst als Barkilphedro. Im Roman ist diese Figur eine intrigante Hofschranze, im Prolog der Filmversion wird Barkilphedro als Hofnarr Jakobs II. eingeführt, was eine kluge Idee ist, denn der böse Narr ist hier der Mann mit dem wirklich falschen Grinsen. Nach Hollywood-Manier wird Barkilphedro zum Gegenspieler Gwynplaines aufgewertet – und am Ende vom Biss des Wolfs Homo erledigt, des treuen Begleiters der Theatertruppe.
90 Jahre vor ihrer Verkörperung durch Olivia Colman in Giorgos
Lanthimos’ „The Favourite“ hat auch die historisch eher unbedeutende Queen Anne
(herrlich pampig: Josephine Crowell) eindrucksvolle Auftritte im
Stummfilm, der eine im Zeremoniell monströs erstarrte und gelangweilte
Hofgesellschaft zeichnet.
Das Drama hinter dem Joker-Gesicht
Paul Leni, der als Filmarchitekt im Weimarer Kino angefangen hatte und 1917 mit dem Märchenstoff „Dornröschen“ seinen ersten Film in Berlin inszenierte, hatte mit seinem Hollywood-Debüt „The Cat and the Canary“ (1927) einen sehr einflussreichen Mix aus Komödie und Horrorfilm gedreht. „Der Mann, der lacht“, der vorletzte Film des mit 44 Jahren jung verstorbenen Regisseurs, fasziniert durch die kontrastive Raumpoetik, eine expressive Chiaroscuro-Fotografie und einen fließenden, mitunter rasanten Rhythmus, der manche Ungereimtheit des Drehbuchs überspielt.
Conrad Veidt hatte davor den somnambulen Cesare in „Das Cabinet des Dr. Caligari“ (1920) sowie Iwan den Schrecklichen in „Das Wachsfigurenkabinett“ (1924) verkörpert. Interessanterweise wirkte Veidt damit im ersten und im letzten Film einer kurzen expressionistischen Phase des Weimarer Kinos mit. Eine „expressionistischere“ Fratze als die von „Der Mann, der lacht“ ist kaum vorstellbar. Andererseits ist die Entstellung, die von der Gesichtsoperation am jungen Gwynplaine herrührt, durch die Handlung motiviert und stellt keine Verzerrung der Wirklichkeit dar (wie etwa bei den Malern der „Brücke“). Das Mundstück, das Veidt unter Schmerzen tragen musste, war vom Maskenbildner Jack Pierce entwickelt worden, der später die berühmten Monstergesichter von Boris Karloffs „Frankenstein“-Ungeheuer und seiner „Mumie“ (1932) kreierte.
„The Man Who Laughs“ zählt zu den eher vergessenen Meisterwerken des Stummfilmkinos. Doch Gwynplaines Grinsen hat eine unauslöschliche Spur in der Popkultur hinterlassen. Der Comiczeichner Bob Kane wurde von dem Gesicht zur Fratze des schurkischen Joker in den DC-Comics „Batman“ inspiriert. Es wird höchste Zeit, dass das eigentliche Drama hinter dem Zähnefletschen neu gewürdigt wird: Die wenig bekannte Geschichte eines zu Unrecht verlachten Mannes.
Diskografischer Hinweise
„Der Mann, der lacht“. Schwarz-weiß. USA 1928. Regie: Paul Leni. Mit Conrad Veidt, Mary Philbin, Olga Baclanova, Brandon Hurst. 110 Min. FSK: ab 12. Anbieter: Wicked Vision.
4-Disc Limited Collector’s Edition (2 Blu-ray & 2 DVD). Anbieter. Wicked Vision. Enthalten ist die neue 4K-Restaurierung des 110-minütigen Films in zwei Tonfassungen, einmal mit dem Original-Soundtrack von Movietone mit Musik und Toneffekten, zum anderen mit einem neuen, in Stereo vom Berklee Silent Film Orchestra eingespielten Score, den Studierende vom Berklee College of Music komponiert haben. Die Edition bietet außerdem eine rekonstruierte Version mit deutschen Texteinblendungen, wie sie in den Kinos der Weimarer Republik zu sehen war. Die deutsche Originalfassung gilt als verschollen. Die Bonus-Materialien umfassen ein 24-seitiges Booklet mit einem Essay von Christoph N. Kellerbach sowie die Doku „Die Geburt der Universal Monster aus dem Geist des Melodrams“ mit Marcus Stiglegger.