Der Millionenerbe Bruce Wayne, der ein Doppelleben als maskierter Rächer Batman führt und nachts die Verbrecher von Gotham City jagt, ist zurück. In „The Batman“ von Matt Reeves blickt die seit den 1940er-Jahren etablierte Comicfigur mehr als in allen filmischen Varianten zuvor in ihren eigenen Abgrund und erkundet auf diese Weise den Mythos des „vigilante hero“. Mit modernen Mythentheorien stellt sich die Frage: Was lernen wir aus dieser Nachtschatten-Fantasie über uns und unsere Gegenwart?
Der gerade in den Kinos gestartete Superheldenfilm „The Batman“ von Matt Reeves transformiert einen einst eher naiven Comichelden (seit 1939 im Comic, dann als Serial, ab „Batman hält die Welt in Atem“ aus dem Jahr 1966 auch als Spielfilm) mittels einer konsequent psychologisierten Mythologie zu einem tragischen Gothic-Heroen. Im Hintergrund der Figur steht das Trauma des Verlusts der Eltern, die bei einem Überfall getötet werden. So wird seine manische Jagd auf Verbrecher motiviert. Mit dem innerlich zerrissenen Helden werfen wir einen Blick in die menschlichen Abgründe, in denen die ethischen Referenzsysteme verschwimmen, denn Batman ist und bleibt ein Vigilant, der das Recht in die eigene Hand nimmt und für Vergeltung steht. Der langanhaltende Erfolg dieses Konzepts wirft Fragen über unser eigenes Verhältnis zum Mythos und zum eigenen Abgrund auf.
Mythos, Moderne und das Medium Film
Im
akademischen Diskurs haben sich Mythos und Moderne als scheinbar unvereinbares
Gegensatzpaar etabliert. Dabei kommt schon Theodor W. Adornos und Max
Horkheimers „Dialektik der Aufklärung“ (1944) nicht ohne den Begriff des Mythos
aus. Die Autoren beziehen ihre elementaren Beispiele aus der klassischen
Mythologie (etwa Homers „Odyssee“ oder der germanischen Edda); auch kann der
Umschlagspunkt von Aufklärung in Barbarei nicht vom mythischen Denken gelöst
werden, in der das individualistische, linear-rationale Denken in ein kollektives,
zyklisches und dadurch eben mythisches übergeht. Horkheimer/Adorno verdichten
ihre Thesen immerhin selbst: „Schon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung
schlägt in Mythologie zurück.“ Mythos und Moderne stehen also selbst mindestens
in dialektischem Verhältnis.
Superhelden-Fiktionen sind zweifellos zu einem modernen Mythos geworden, in dem die klassischen Konzepte auf zeitgemäße Weise transformiert werden. Diese modernen Mythentransformationen können daher als Spiegel heutiger Träume, Begehrlichkeiten und Ängste reflektiert werden.
Der Mythentheoretiker Joseph Campbell, der einen wichtigen Einfluss auf George Lucas’ „Star Wars“-Universum hatte, beschrieb die Bedeutung der Mythologie als eine komplexe Funktion innerhalb der menschlichen Gesellschaft. So kann das Geheimnis des Lebens oder die Entstehung der Welt nicht direkt in Worte gefasst werden; es verlangt nach Symbolen und verdichtenden Erzählungen, die man Mythen nennt. Mythen und Symbole finden danach Verwendung und Ausdruck im Ritual, worin Campbell eine menschheitsgeschichtliche Universalie sieht. Das Ritual inszeniert einen Teil des Mythos und kann als performativer Teil des mythischen Narrativs gelten. Das rituelle Dispositiv des Kinos qualifiziert gerade dieses Medium als Mythenträger der Moderne: Filme können wiederholt gesehen werden; sie sind nach rituellen Prinzipien in Form von vertrauten Standardsituationen und dramaturgischen Mustern konstruiert und werden ebenso zyklisch transformiert und an neue Umstände angepasst. Mythos, Ritual und mediales Narrativ verschmelzen im Spielfilm auf prototypische Weise – und „The Batman“ ist ein überzeugendes Beispiel für diesen Prozess.
Vom Ritus zum Franchise
Dass die Medien der Moderne, allen voran Kino, Literatur und Theater, sehr bald zum neuen Mythenreservoir wurden, wurde schon in frühen medientheoretischen Schriften diagnostiziert. Einer grundsätzlichen, der Ethnologie entstammenden Annahme nach ist unter Mythos eine mündlich, schriftlich oder anderweitig überlieferte Erzählung mit sakralem Gehalt zu verstehen. Mircea Eliade betont in „Die Religionen und das Heilige“ (1954), dass die Protagonisten der mythischen Fabel „übermenschliche“ Wesen seien. Der Mythos bezeichnet insofern den Einbruch des Heiligen ins Alltägliche – oder umgekehrt: den Moment des Alltäglichen im Heiligen. Ernst Cassirer und Claude Lévi-Strauß begreifen in „Mythisches Denken“ (1925) und „Das wilde Denken“ (1962) den Mythos als eine Möglichkeit, Welt zu begreifen. Dabei kommt die „Allgegenwart“ des mythischen Geschehens zum Tragen; das mythische Denken ist zyklisch angelegt und arbeitet mittels ritueller Strukturen auf eine Wiederholung des Schlüsselereignisses hin. Auch das Medium Film eignet sich diese zyklische Form an: im kommerziellen Film, in Streamingserien und Computergames werden gezielt immer dieselben Fabeln variiert und reproduziert, so als gelte es, dem Mythennarrativ permanente Gegenwart zu gewähren. Das Medium arbeitet auf die Weise am Mythos, adaptiert und transformiert ihn, um ihn für eine immer neues Publikum attraktiv zu halten.
Das führt so weit, dass sogar eine Erwartung des Publikums konstatiert werden kann, das das Vertraute, aber stets neu Bewegende zyklisch wiederkehren sehen will. Hierin ist der Erfolg US-amerikanischer Kino-Franchises zu erklären.
Sieht man Spielfilme (und Serien) also
als moderne und populäre „Arbeit am Mythos“ im Sinne Hans Blumenbergs, haben
auch sie eine weltdeutende Funktion: In vorwissenschaftlicher, verschlüsselter
Form suchen sie nach Erklärungen für die Welt, die Rolle des Menschen und die Ursprünge
menschlichen Verhaltens.
Produktive Arbeit am Mythos
Mythen hatten (und haben) auch eine
soziologische Funktion. Sie können die bestehende gesellschaftliche Ordnung
begründen und affirmieren – hierin liegt die oft zitierte konservative Funktion
des Mythos. In Heldenmythen kann eine bestehende Ordnung aber auch in Frage
gestellt werden, es kann auch um die Notwendigkeit von Umbruch und Erneuerung
gehen. Der Heros wird dann zur Figur der Revolte. Ein Muster, das man aus
antiken Mythen wie der „Titanomachie“ kennt, der Geschichte um den Kampf der griechischen
Götter gegen die Vätergeneration der Titanen. Und das sich bis in die Geschichten
um die „rebel heros“ des Kinos fortsetzt.
Die „Batman“-Figur als moderner Heros und prototypischer„vigilante hero“ hat sich in dieser Hinsicht als faszinierend ambivalent erwiesen. Als Verbrechensbekämpfer ist sie ein Beschützer von Recht und Ordnung, als maskierte nächtliche Gestalt, die jenseits des demokratisch legitimierten Systems von Justiz und Exekutive eigenmächtig operiert und damit durch ihre schiere Existenz die Funktionsfähigkeit dieses Systems in Frage stellt, aber auch ein „rebel hero“. Während frühere „Batman“-Filmadaptionen diesen Zwiespalt noch weitgehend einebneten, sorgte Christopher Nolans „Batman“-Trilogie schon für eine latente Zerrissenheit der Figur; Matt Reeves' „The Batman“ macht ihn nun zum zentralen Thema.
Bemerkenswert an „The Batman“ ist, dass er weitere parallele (Anti-)Heldenmythen etabliert: Selina Kyle (Zoe Kravitz) spiegelt hier Waynes tragische Geschichte – ihre Mutter wurde ermordet, ihr Vater ist der Mobsterboss Carmine Falcone (John Turturro); sie wird zur revoltierenden Catwoman, die gegen den kriminellen Vater aufbegehrt, der ihre Mutter und ihre Freundin auf dem Gewissen hat. Der verarmte Waise Edward Nashton (Paul Dano), der zentrale Antagonist des Films, wird zum wahrheitssuchenden Rätselkönig The Riddler, der die privilegierte höhere Gesellschaft gewaltsam aufs Korn nimmt. Sie alle nutzen ihre Maske nicht als ein anderes Ich, sondern bringen dieses in der Maske erst zum Vorschein. All dem liegt eine jeweils individuelle Revolte gegen Vater-Figuren zugrunde, deren „Sünden“ das Leben der Kinder überschatten – so muss dies auch Bruce Wayne ganz wörtlich in „The Batman“ lernen.
Gotham City meets „Chinatown“
Das Medium Film arbeitet entweder mit klassischen Mythen oder mit mythologischen Motiven (Orpheus, Ödipus, der Sündenfall) oder erschafft seine eignen Mythen und Kulte, etwa durch charismatische Protagonisten wie den fiktiven Bruce Wayne/Batman in der Verkörperung durch Christian Bale oder aktuell Robert Pattinson. Es erweist sich als eher kontraproduktiv, den mythischen Gehalt solcher Filme als „Regression“ zu werten, wie es Hartmut Heuermann in seinem Buch „Medienkultur und Mythen“ (1994) unternahm, oder gar den Mythos ganz allgemein als Angst- oder Feindbild des Denkens zu betrachten, wie man es gelegentlich in der linken Theorie nach Adorno und Habermas beobachten kann. Film, populäre Kultur und Mythos sind eng verwoben. Tatsächlich ist es eher die Frage, ob ein filmisches Artefakt den Zuschauer entmündigen und manipulieren möchte oder mit dem Mythos produktiv arbeitet. Gerade das seduktive US-amerikanische Mainstreamkino – und „The Batman“ gehört zweifellos hierzu – baut seinen größten Reiz auf seiner mythischen Qualität auf.
Wie geht nun Matt Reeves in seiner zeitgemäßen Mythentransformation vor? Was erzählt er über unsere Zeit und den Zustand der westlichen Industriegesellschaft? Ausgangspunkt ist ein apokalyptisches Stadtbild. Das dichte Netz an Hochhäusern wird von einem Dauerregen verschleiert, so als wäre die Essenz des Film Noir zum Alltag geworden. Die Politik ist korrupt und vom Gangstermob kaum zu unterscheiden. Familiäre Verbindungen machen eine Distanzierung davon unmöglich. Ein wichtiger Einfluss auf „The Batman“ dürfte der Neo-Noir-Klassiker „Chinatown“ (1974) von Roman Polanski sein, der Korruption und die Sünden des Vaters in ähnlichem Ausmaß ausbreitet.
Dem Millionenerben Bruce Wayne bedeutet sein Reichtum in „The Batman“ nichts. Als sein Butler Alfred (Andy Serkis) ihn auf den Verfall seines Kapitals hinweist, reagiert er gleichgültig. Anders als noch Ben Affleck und Christian Bale als Wayne kokettiert er nicht mit seinem Reichtum. Es erscheint eher so, als sei der Bürger Bruce Wayne das Kostüm und der Bat-Anzug sein Alltag, was von Alfred auch bemerkt wird. Robert Pattinson ist deshalb häufiger maskiert als zivil im Film zu sehen. Im Anzug wirkt er fragil und verloren.
Batman begegnet im Riddler seiner dunklen Seite
Der
Riddler sieht in „The Batman“ nicht nur äußerlich wie ein Zerrbild Batmans aus,
sondern seine Intentionen und Selbstwahrnehmungen qualifizieren ihn als einen
dunklen Doppelgänger des Vigilanten. Paul Dano erdet die
verspielte Tricksterfigur, als die Jim Carrey in „Batman Forever“ (1995) von Joel Schumacher einst auftrat. Zwar
waren auch früher die Schurken von Gotham allesamt Traumatisierte mit
gespaltener Persönlichkeit – am deutlichsten wohl das Doppelgesicht Twoface –,
doch Reeves Matt betont besonders deutlich, wie schmal der Grat zwischen dem
Riddler und Batman letztlich ist.
In einem Bekennerschreiben bezeichnet sich der Riddler selbst als „Batmans geheimen Freund“. Visuell verbindet „The Batman“ zwei Filme von David Fincher, den Cop-Thriller „Sieben“ (1995) und das Serienkiller-Drama „Zodiac – Die Spur des Killers“ (2007). Mit großen Unschärfebereichen, ausgedehnten Dunkelzonen und extremen Close-Ups liefert er lediglich Details aus einem groß angelegten Puzzle. Batman und der Police Commissioner Gordon (Jeffrey Wright) ermitteln wie in „Sieben“, müssen die Rätsel lesen und lösen lernen (wie in „Zodiac“ und „Sieben“) und stehen am Ende vor einem Plan, der sie mit zu Instrumenten des Killers macht („Sieben“). Der Riddler liefert sich letztlich selbst aus, wobei seine Unfassbarkeit an den Verdächtigen aus „Zodiac“ erinnert, der nie überführt wird. „The Batman“ verbindet vertraute Modelle so durch Neukontextualisierung zu einem frischen Blick auf den Comichelden.
Der Pinguin (Colin Farrell) wird ebenso seiner comichaft-bizarren Eigenschaften entkleidet wie der Riddler, dessen Fragezeichen-Anzug im Film keinen Platz hat. Reeves interessiert sich nie für ironische Brechungen, die für viele Comic-Adaptionen so typisch sind. Selina Kyle ist eine selbstbewusste und offensichtlich bisexuelle Frau, die in unterschiedlichen Rollen brilliert und sich immer wieder entziehen kann – wie eine Katze mit mehreren Leben. Das würde sie mit früheren Konzepten verbinden (Michelle Pfeiffer, Halle Berry und Anne Hathaway spielten sie bislang als eher klassische Femmes fatales), aber in „The Batman“ ist Selina aus dem Geist des Post-Punk geboren: eine Außenseiterin mit Motorrad, gekleidet in enges Leder. Ihr offensives sexuelles Begehren und ihre Eigensinnigkeit erinnern weit mehr an die schwedische Hackerin Lisbeth Salander aus den Romanen von Stieg Larsson oder an ihre Marvel-Kollegin, die Privatdetektivin „Jessica Jones“. Auch bei diesen Nebenfiguren schafft Reeves in der Fusion aus mehreren populären Ikonen eine frische und spannende Mythentransformation.
„The Batman“ als ethische Herausforderung
Das Konzept des „vigilante hero“, der jenseits des Gesetzes operiert, fußt auf den US-amerikanischer Gründungsmythen. An der Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation im sogenannten Wilden Westen musste angesichts des Vakuums an tragfähigen staatlichen Strukturen das Recht neu ausgehandelt werden, bis im Zug der Besiedlung des Landes der Sheriff als Autorität etabliert wurde. Zuvor lagen Justiz und Exekutive in den Händen der Pioniere, die – darum kreisen zahlreiche Western als mythische Gründungsgeschichten – im Zweifelsfall selbst zur Waffe greifen mussten, um ihren Ansprüchen und ihrem Rechtsempfinden Geltung zu verschaffen. Und das „Recht, ja die Pflicht“, auch gegen etablierte staatliche Strukturen aufzubegehren, sollte eine schlechte, dem Wohl des Volkes abträgliche Autorität an die Macht kommen, schrieb sich der junge US-Staat Ende des 18. Jahrhunderts sogar in sein offizielles Gründungsdokument, die „Declaration of Independence“. Ein Selbstverständnis, dass in den USA tief verwurzelt ist – bis hin zum Sturm auf das Capitol in Washington 2021.
Insofern
entspringen der Batman-Mythos und seine unkaputtbare Popularität – was auch für
andere Superhelden-Mythen zutrifft – einer uramerikanischen Rechtsvorstellung, die
dazu autorisiert, das Recht zur Not auch gewaltsam durchzusetzen, wenn der
Staat versagt. Eine Vorstellung, die jüngere Superheldencomics- und -verfilmungen
immer wieder auf den Prüfstand stellten und hinterfragten und die nun in „The
Batman“ endgültig ihren heroischen Glanz einbüßt. Wie ambivalent der Film ihr gegenübersteht,
zeigen nicht zuletzt jene Szenen, in denen sich Batmans Gerechtigkeitssinn in
einem brutalen Exzess Bahn bricht und er auf seine Gegner haltlos einprügelt.
Bereits in der Exposition des Films wird dieser Exzess intensiv ausagiert. In
dieser kritischen Dekonstruktion des „vigilante hero“ spielen nicht zuletzt
auch die beiden symbolischen Spiegel oder Gegenstücke Batmans eine Rolle: Der
Riddler treibt die Selbstermächtigung der gewaltsamen Durchsetzung des Rechts bis
zum Wahn und zum apokalyptischen Zerstörungsszenario, während Catwoman nur darauf
aus ist, ihre individuellen Rechnungen zu begleichen und am Ende aus Gotham
verschwindet.
Batman/Bruce Wayne steht dazwischen; er ist durch seine Familie in die Gesellschaft eingebunden und muss immer wieder Wege suchen, sowohl seine obsessiven Neigungen als „Rächer“, als auch seine individuellen Aspekte zu kanalisieren. Kein Batman-Film zuvor hat die Figur in dieser Position derart zerquält und zerrissen geschildert. Er ist fast selbst ein tragischer „Gothic Villain“ in seinem Schloss, mit schwarzen Strähnen und dunklen Schatten unter den Augen – eine traurige Vampir-Fledermaus.
„The Batman“ als Heros ist ein Archetyp des gewalttätigen Korrektivs, das sich in die Moderne hinein als deren Nachtseite fortsetzt: Er ist die Fledermaus, die in unserem ethischen Bewusstsein haust und uns zwingt, in den eigenen Abgrund zu blicken und uns zu fragen, wie weit wir selbst gehen würden, um dem, was wir als Wahrheit und Gerechtigkeit ansehen, einen angemessenen Raum zu schaffen – und ab wann kein scheinbar edler Zweck mehr die Mittel heiligt. In einer Welt aus Dunkelheit und Tod.