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Pasolini reloaded

Der Schweizer Theater- und Filmregisseur Milo Rau schreibt mit „Das Neue Evangelium“ nicht nur das Jesusfilm-Genre fort, sondern aktualisiert auch die christliche Botschaft einer „Option für die Armen“

Veröffentlicht am
12. Februar 2021
Diskussion

In „Das Neue Evangelium“ von Milo Rau verschränken sich politischer Protest und biblische Erzählung zu einer herausfordernden Aktualisierung christlicher Grundüberzeugungen: dass Gerechtigkeit und Menschenwürde sich an den Rändern der Gesellschaft bewähren müssen. Raus „Revolte der Würde“ schreibt damit das filmische „Evangelium“ von Pier Paolo Pasolini fort.


Wenn Milo Raus „Das Neue Evangelium“ mit einer Schwarzfilmpassage zu den Klängen von Mozarts „Maurerischer Trauermusik“ anhebt, wähnt man sich einen Moment lang in einem ganz anderen Film: in der Golgotha-Sequenz von Pier Paolo Pasolinis bald 60 Jahre altem „Das erste Evangelium – Matthäus“ (1964). Doch die betroffen wirkenden Gesichter, die dann ins Bild kommen, als sie – wie man von Pasolini her annehmen darf – Zeugen der Passion werden, sind weniger die Gesichter italienischer Laiendarsteller, sondern vornehmlich die von Menschen mit dunkler Hautfarbe und in einfacher Kleidung, bei denen man sich sogleich an die Berichterstattung über Flucht und Vertreibung erinnert. Damit ist schon in der ersten Szene von „Das Neue Evangelium“ das inszenatorische Grundprinzip markiert: die Verschränkung der Jesuserzählung nach Pasolini mit dem Schicksal von Migranten.

Verschränkung von Jesusgeschichte und politischem Protest: "Das Neue Evangelium" ()
Verschränkung von Jesusgeschichte und politischem Protest: "Das Neue Evangelium" (© Armin Smailovic)

Es sind Geflüchtete aus dem afrikanischen Kontinent, die es zwar nach Italien geschafft haben, dort aber als ausgebeutete, ihrer Rechte beraubte Erntesklaven auf den Tomaten- und Orangenplantagen unter menschenunwürdigen Bedingungen um ihr Überleben kämpfen. Sie sind jetzt die Ärmsten der Armen, die Diskriminierten und Ausgegrenzten, die einstmals Jesu bevorzugte Adressaten seiner Botschaft von der mit ihm angebrochenen Gottesherrschaft waren. Pasolini hatte seine Armen, die ihre biblischen Pendants nicht nur spielten, sondern tatsächlich bitterarm waren, in der süditalienischen Basilikata gefunden, in und um die Stadt Matera herum.


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Auf diese vom Fortschritt abgehängte Provinz wurde man erstmals aufmerksam, als Mitte der 1930er-Jahre der Arzt und Schriftsteller Carlo Levi dorthin verbannt wurde und in seinem Buch „Christus kam nur bis Eboli“ (1945) literarisch dokumentierte. Die elenden Zustände, die Ausbeutung der Bauern und Arbeiter und die archaischen Machthierarchien, die Levi erschütternd nahebrachte, ließen Matera zur „Schande Italiens“ werden. Pasolini hatte die Gegend bereits 1963 für seinen Interview-Film „Gastmahl der Liebe“ bereist. Ein Jahr später fand er dort sein Galiläa und in der völlig heruntergekommenen Stadt Matera sein Jerusalem. Anders als in Israel, das er auf der Suche nach Locations für seine Verfilmung des Matthäusevangeliums bereist hatte, traf er hier auf eine von der Moderne kaum berührte Landschaft und auf Lebensumstände, an denen sich seit den biblischen Tagen strukturell scheinbar wenig geändert hatte. Immer noch lebten hier viele Menschen in den Höhlen der „Sassi di Matera“, und eine davon wurde die Behausung seiner Heiligen Familie.

Seither haben sich in der Region gewaltige Umwälzungen vollzogen: Die Höhlen wurden ein touristischer Hotspot, und Matera stieg zum „Weltkulturerbe“ und zur „Europäischen Kulturhauptstadt“ 2019 auf. Diesen Aufschwung verdankt die Stadt nicht zuletzt der Filmindustrie, die sie schon in den 1950er-Jahren als pittoresken Drehort entdeckte. Inzwischen wurden über hundert Kino- und Fernsehproduktionen gedreht, darunter auch zahlreiche mit biblischen Sujets. Am bekanntesten sind Mel Gibsons „Die Passion Christi“ (2004) und „Maria Magdalena“ (2018) von Garth Davis.

Als der Schweizer Theater- und Filmregisseur Milo Rau zur Realisierung eines Projekts im Rahmen des Kulturhauptstadt-Programms nach Matera eingeladen wurde, lag es nahe, an diese filmische Tradition anzuschließen. Rau hatte mit „Die 120 Tage von Sodom“ bereits früher einen Pasolini-Stoff für die Bühne adaptiert; Pasolinis sozialkritische Bearbeitung des Matthäusevangeliums bot sich ihm als einem politischen Künstler an, neu für die Gegenwart entdeckt und in dieser fortgeschrieben zu werden. Die sogenannte „Dritte Welt“, in die Pasolini mit geradezu befreiungstheologischer Verve seinen Jesus sprechen lassen wollte, begann seinerzeit in den Außenbezirken Roms und war im unterentwickelten Süden Italiens allgegenwärtig.

Heute ist sie dort auf andere Weise präsent: in Gestalt zahlloser Geflüchteter, die zu einer Schattenexistenz verurteilt sind. Jesu unbedingte „Option für die Armen“, die Pasolini so tief erfasst und der er in künstlerisch herausfordernder Weise Gestalt gegeben hat, inspiriert auch Raus Film: Der historische Jesus, der sich selbst arm gemacht hatte und der selbst einer der Armen war, würde sich heute der Migranten annehmen, ja vielleicht als einer von ihnen Mensch werden. In diese Richtung weisen auch zahlreiche Worte, symbolische Handlungen und Reisen von Papst Franziskus, der nicht zufällig als erstes nach Lampedusa aufgebrochen ist, später auch nach Moria und in andere Camps für Geflüchtete, der Migranten die Füße wusch, für sie betete und mit klaren Ansagen und Appellen an die Weltöffentlichkeit für sie eintritt. Im Geiste des Evangeliums engagieren sich auch die beiden christlichen Kirchen in Deutschland tatkräftig für die Rettung, die Rechte und die Bedürfnisse von Geflüchteten.

Für Milo Raus Filmkonzept waren zwei Wahrnehmungen entscheidend: Zum einen die Wahrnehmung der „sozialrevolutionären“ Energie des Evangeliums, die filmgeschichtlich als erstes von Pasolini hervorgehoben wurde. Zum anderen die Wahrnehmung der Not der Migranten im Umfeld von Matera. Aus der Verschränkung der Jesuserzählung mit den gewaltigen Problemen der in Europa gestrandeten Menschen entstand „Das Neue Evangelium“ – als ein ebenso engagierter wie komplexer Film.


Zur Komposition des Films

Hinsichtlich der Verflechtung einer Gegenwarts- mit einer Jesushandlung werden sich manche an Denys Arcands „Jesus von Montreal“ (1989) erinnern, der eine ebenfalls christomorph aufgeladene Geschichte um einen jungen Schauspieler mit Szenen aus einem von diesem neu inszenierten Passionsspiel verbindet.

Bei Milo Rau war allein schon aufgrund der skizzierten Koordinaten – Pasolini, Migration, Matera als Kulturhauptstadt – und im Wissen um dessen vielschichtige Theaterinszenierungen keine lineare, sich konsistent einem einzigen Genre zuordnende Inszenierung zu erwarten. Das Presseheft kündigt denn auch einen „hybriden Film“ an: „eine Verschmelzung von Dokumentarfilm, Spielfilm, politischer Aktionskunst und Passionsspiel“. Doch selbst diese Beschreibung greift zu kurz, denn innerhalb der genannten Genres entfaltet sich ein beachtliches Spektrum unterschiedlicher Gestaltungsformen. Zu der Liste gehört unbedingt auch das Genre des „Making of“. Denn angefangen mit der Besichtigung des Drehorts (mit Fokus auf die Pasolini-Sets), über Casting-Szenen, Interviews und Teambesprechungen bis hin zu Szenenproben und „Aufnahmen von den Filmaufnahmen“ ist strukturell all das in den Film mitintegriert, was bei DVD-Editionen üblicherweise ins Bonusmaterial ausgelagert wird.

Mit im Bild: Das Making-of von "Das Neue Evangelium"
Mit im Bild: Das Making-of von "Das Neue Evangelium" (© Armin Smailovic)

Die „Making of“-Bilder, in die weniger durch harte Schnitte als gleitend (durch Schwenks oder Veränderungen im Bildausschnitt) aus den inszenierten Szenen gewechselt wird (und umgekehrt), sind gewissermaßen der Kitt zwischen den beiden Hauptsträngen: der (inszenierten oder geprobten) Jesushandlung und den dokumentarischen Szenen. Auch letztere sind ebenfalls oft partiell inszeniert, damit sie sich besser in die mosaikartige Textur und zur Jesushandlung fügen. All dies fordert dem Publikum einiges ab, zumal dann, wenn man in den im Film (teilweise gebrochen) gesprochenen Sprachen Italienisch, Englisch und Französisch nicht sicher und deshalb öfters mit den Untertiteln beschäftigt ist. Gleichwohl: Die sehr heterogenen Bauelemente des Films fallen nicht auseinander, sondern fügen sich zu einer vielstimmigen Partitur, die von einem ganz eigenem „Flow“ durchpulst ist.

Ein wichtiges verbindendes Moment ist die Musik. Mit dem dominanten Rückgriff auf klassische Partien, die zumeist aus Pasolinis Jesusfilm übernommen wurden, und einigen neuen, recht ruhigen Liedern italienischer und afrikanischer Singer-Songwriter bringt der Score neben seinen atmosphärischen und emotionslenkenden Wirkungen auch etwas Ruhe und „Stabilität“ in den kaleidoskopischen Reigen der vielgestaltigen Szenen um Jesus und die Migranten.


Die „Rivolta della Dignità“ der Erntehelfer

Die Schlüsselgestalt der semi-dokumentarisch inszenierten Handlung um den Widerstand der Migranten gegen ihre Ausbeutung und ihre unwürdigen Lebensbedingungen – und in der biblischen Handlung zugleich der Jesus-Darsteller – ist der in Italien mittlerweile recht bekannte Aktivist Yvan Sagnet. So authentisch wie er in seiner realen Rolle als Vorkämpfer für die Rechte der Migranten agiert, so überzeugend, ja charismatisch stellt er Jesus vor. Hierin gleicht er Pasolinis Jesus-Darsteller Enrique Irazoqui, den Pasolini wegen seines Aussehens und seiner Ausstrahlung zur Übernahme der Hauptrolle gedrängt hatte. Irazoqui war Kommunist und hatte keinen inneren Bezug zum Christentum. Yvan Sagnet hingegen ist in einer christlichen Familie in Kamerun aufgewachsen und versteht sich auch heute noch als Christ. Mit Raus Jesusfigur auf den Spuren von Pasolini als einem leidenschaftlichen Anwalt der Armen und Entrechteten hätte Sagnet auch ohne biografischen Hintergrund keine Schwierigkeiten gehabt. Er übernahm die Jesus-Rolle, wie er im Film sagt, nicht wegen ihrer religiösen Dimensionen, sondern weil er sie als Teil seines politischen Kampfes für die Migranten begreift.

So wie Jesus in Galiläa den Armen die Gottesherrschaft ansagte und Jünger um sich sammelte, so geht Sagnet in die armseligen Quartiere der Erntehelfer oder sucht sie auf den Felder auf, um sie zum Widerstand gegen Ausbeutung und Entwürdigung anzuspornen. Es ist ein ganzes Bündel von eklatanten Missständen, die er anprangert. Sagnet kennt sie aus eigener Erfahrung; als Student hatte er in Italien selbst auf den Feldern geschuftet. Dort werden nur Spottlöhne bezahlt; das meiste geht für die völlig überzogenen Kosten für Unterbringung, Verpflegung und den Transport zu den Feldern drauf. Da die wenigsten Migranten eine Arbeitsberechtigung haben, sind sie der Willkür der Agrarunternehmer ausgeliefert. In ihren Unterkünften herrschen katastrophale Zustände: kein fließendes Wasser, keine sanitären Einrichtungen, schlechte Versorgung, keine ärztliche Hilfe, keine Privatsphäre. Sagnet ermutigt sie, dagegen aufzubegehren, anfangs unterstützt von einem einheimischen Aktivisten, der sich später aber verbittert abwendet, weil seine Ratschläge für den politischen Kampf zu wenig Gehör finden.

Zusammen mit seinen Mitstreitern ruft Sagnet die (in dieser Form nur im Film existente) Bewegung der „Rivolta della Dignità“ – den „Aufstand der Würde“ – ins Leben. Das Plakat, das bei den Aktionen fortan mitgeführt wird, zeigt das Haupt eines schwarzen Christus mit Dornenkrone. Auch für sie, die Entrechteten und Erniedrigten von heute, ist Jesus gestorben, auch für sie ist sein Kreuz ein Zeichen der Leidenssolidarität und der Hoffnung auf eine andere Welt. Mit diesem Plakat erinnert die „Rivolta“ an die weitaus ältere Identifikation der ebenfalls rechtlosen und geknechteten lateinamerikanischen Campesinos mit Jesus. Sie hatte sich in der bekannten Grafik des ‚gekreuzigten Campesino‘ verdichtet, die zum Inbild des von der Befreiungstheologie inspirierten politischen Kampfes wurde.

Im Zeichen des leidenden Christus demonstrieren nun auch in „Das Neue Evangelium“ die Anhänger der „Rivolta“ mit Kundgebungen und Straßenblockaden für ihre Rechte und ihre Würde. Schließlich ermutigt sie Yvan Sagnet/Jesus zu einem großen Protestzug nach Matera. Alles bleibt friedlich, aber die Stimmung ist aufgeheizt, ja sie kocht förmlich über durch die Hoffnung auf eine unmittelbar bevorstehende Wende zum Besseren.

Aber dieses große Aufbäumen und die flammenden Worte Sagnets zeigen keine Wirkung. Stattdessen verstärkt die Polizei, die sich bislang zurückhielt, ihre Repressalien gegen die Migranten und „räumt“, sprich: zerstört eine große Behelfsunterkunft, was deren Bewohner obdachlos macht und dazu zwingt, die Gegend zu verlassen, ohne zu wissen, wohin sie sich wenden und neue Arbeit finden

Einzug in Matera/Jerusalem: "Das Neue Evangelium" ()
Einzug in Matera/Jerusalem: "Das Neue Evangelium" (© Armin Smailovic)


Beim Protestmarsch nach Matera fließen die Migranten- und die Jesushandlung zusammen: Der Zug nach Matera wird zum Einzug in Jerusalem, und die eher symbolische Zerstörung ausbeuterisch produzierter Tomatenkonserven in einem Supermarkt wird zum Tempelprotest. In vielen Jesusfilmen verbinden sich der Einzug in Jerusalem und die Tempelaustreibung mit der – dann bitter enttäuschten – Hoffnung des Volkes auf einen großen politischen Umschwung, ja auf eine revolutionäre Erhebung unter der Führung Jesu. Wie Jesus begeistert auch Sagnet bei diesem Höhepunkt des Protests die Menge. Und er spricht jetzt auch nicht mehr in heutiger Alltagskleidung, sondern im weißen, langen Jesusgewand und zu den Mozartklängen aus Pasolinis Passion: Sagnet und Jesus verschmelzen. Doch die „Rivolta“ verpufft, die Jünger und das Volk sind desillusioniert. Die Passion nimmt ihren Lauf, und mit ihr verschwindet die Migranten-Ebene zusehends hinter den direkt biblisch inspirierten Szenen.


Die biblische Jesuserzählung nach Milo Rau

Nach dem Filmbeginn, der musikalisch und mit den Blicken auf betroffene Zeugen die Passion intonierte, hebt die Jesushandlung mit der aus dem Off angesagten Verkündigung der Geburt Jesu an (Mt 1,21). Der biblische Referenztext ist wie bei Pasolini durchgängig das Matthäusevangelium, wobei die dort breit ausgefaltete und politisch aufgeladene Kindheitsgeschichte übersprungen wird. Nur ganz vereinzelt finden sich „Einlagerungen“ aus anderen Evangelien: etwa bei der mit johanneischen Motiven imprägnierten Kreuzigungsszene (wie schon bei Pasolini), oder in der Handlung um die „Ehebrecherin“ (Joh 8,3ff.) sowie der Frau, die Jesus die Füße wäscht (Lk 7,38). Nur die wichtigsten der gegenüber der biblischen Erzählung oftmals umgestellten und fragmentierten Episoden und Jesusworte (Logien) können hier genannt werden (grob in der Reihenfolge von „Das Neue Evangelium“); programmatischen Charakter haben die Logien von der „Erfüllung des Gesetzes (Mt 5,17) und der „Unbehaustheit des Menschensohns“ (Mt 8,20) – hier weniger als Hoheitstitel begriffen, sondern auf die Migranten bezogen als „der Menschen Sohn“. Weitere Leitmotive etablieren der „Messianische Heroldsruf“ (Mt 4,17) mit der Aufforderung zur Umkehr im Zeichen der angebrochenen Gottesherrschaft sowie der Schlussvers der „Seligpreisungen (Mt 5.11), der den Beistand für die Verfolgten und Verleumdeten zusagt. Einigen Raum erhält die Taufe Jesu: mit zwei Ausschnitten aus Pasolinis Film und einer Nachstellung von Jesu Taufe durch Johannes. Bei Rau ist diese Szene zugleich eine Hommage an Pasolinis „Jesus“ Enrique Irazoqui, der einen kurzen Filmauftritt als Täufer hat (leider aber nicht wie bei Pasolini zu seiner flammenden Zornespredigt (vgl. Mt 3,7-12) ausholen kann, die gut in den Film gepasst hätte, sondern nur einen einzigen Satz (Mt 3,14) sagen darf; Irazoqui verstarb am 16. September 2020).

Eingelagert in die Taufszenen ist die Berufung der ersten vier Jünger, die sich nicht etwa auf den Tomatenfeldern ereignet, sondern (wie bei Pasolini) am von Matera etwa 50 Kilometer entfernten Meer, wo Petrus, Andreas, Jakobus und Johannes als Fischer arbeiten (Mt 4,18-22). Auf die Taufe Jesu folgt überraschend früh der „Seewandel“ (Mt 14,25-27), den Rau vom (semantisch bedeutsamen) Nacht-Setting der Bibel ins gleißende Tageslicht verlegt. Dann geht es zurück zur im Wortlaut exakt biblischen und in der Inszenierung exakt Pasolini nachgestalteten „Versuchung Jesu“ durch den Satan (Mt 4,1-10), die bei Matthäus die Exposition seines Evangeliums beschließt.

Von hier springt die Erzählung – nach einem Zwischenspiel mit der „Ehebrecherin“-Episode – sogleich zur Passionshandlung, indem noch vor dem Einzug in Jerusalem zwei der später dort im Tempel stattfindenden Dispute mit den religiösen Autoritäten aufgenommen werden – inszeniert als Szenenproben, bei denen Irazoqui als Berater agiert. Erfolglos versuchen die beiden hochrangigen Priester, Jesus mit ihren Fragen nach seiner „Vollmacht“ (Mt 21,23ff.) und nach der „kaiserlichen Steuer“ (Mt 22,15ff.) eine Falle zustellen. Dann beginnt der Zug der „Rivolta“ nach Matera/Jerusalem, und der nahende Tod wirft seine Schatten voraus: mit einer Kreuzigungsprobe, mit Jesu Ruf in die Kreuzesnachfolge (vgl. Mt 16,24ff.) und seinem Drohwort von der Zerstörung des Tempels (Mt 24,2).

Während sich wegen der Folgenlosigkeit des Einzugs allenthalben Resignation breitmacht und die Staatsmacht zurückschlägt, läuft die Passionshandlung geradlinig und nach vertrauter Manier auf ihr Finale zu.


Zwischen Innovation und einer Blaupause Pasolinis

Die Jesushandlung ist in verschiedenen Modi der Inszenierung umgesetzt, mit teilweise fließenden Übergängen: Es gibt Schriftzitate aus dem Off, Szenen-Proben und „fertig“ inszenierte Partien. Letztere bewegen sich in der ganzen Spannbreite zwischen Aktualisierung, Historisierung und erbaulichem Passionsspiel, wobei besonders die aus Antike-Filmen vertraute Kostümierung der Römer irritiert.

Etwas befremdlich wirkt es auch, wenn im Kontext einer Inszenierung, die die Jesusgeschichte in die Gegenwart heben will, Judas wie im Passionsspiel ein Beutel mit Silberlingen für seinen Verrat ausgehändigt wird, oder wenn sich die Abendmahlgemeinschaft einmal mehr à la da Vinci an einer langen Tafel aufreiht. Da hatten andere Filme, etwa Pasolinis, originellere und weniger künstlich anmutende Lösungen gefunden. Milo Raus Jesus erscheint einmal mehr im „traditionellen“ weißen Gewand, seine Anhänger und die anderen Figuren hingegen im Stil der „sanften“, ins Zeitlose zielenden Historisierung Pasolinis.

Das letzte Mahl bei Milo Rau ()
Das letzte Mahl bei Milo Rau (© Armin Smailovic )


Immer wieder Pasolini! „Das Neue Evangelium“ ist durchgängig eine große Verbeugung vor dem „alten“, dauerhaft vitalen „Evangelium“ Pasolinis. Dieses ist weit über die Musik- und die eingebundenen Filmausschnitte hinaus präsent: bis in exakt übernommene Settings, in Bildkomposition, Kamera- und Darstellerführung (etwa bei der Jüngerberufung, beim Seewandel, der Versuchung in der Wüste oder bei Kreuzweg und Kreuzigung). Derart viele Einstellungen und Szenen sind Nachinszenierungen, ja förmliche Blaupausen von Pasolinis Bildern, dass dies über den Rahmen einer Hommage hinausgeht, und sich bisweilen das Gefühl einschleicht, dass Rau für seine Jesushandlung keine neuen, eigenen Bilder eingefallen sind, so innovativ die Gesamtarchitektur mit ihrer pluriformen Verflechtung unterschiedlichster Genres ansonsten auch ist.

Die Auswahl der biblischen Szenen ist von der künstlerischen Freiheit Milo Raus gedeckt, aber nicht über alle Anfragen erhaben. Das bezieht sich weniger auf die Auslassung theologisch bedeutsamer, von Pasolini allesamt aufgenommener Momente wie der Einsetzung der Eucharistie, der Grablegung oder der (nicht nur im Film) immer schwierigen Auferstehung. Maß nehmen darf man aber an Milo Raus zentraler Intention, Jesu „Option für die Armen“ neu zur Geltung zu bringen. Von hier aus fragt sich, weshalb er so viele gerade dafür bedeutsame Episoden übergangen hat: etwa die Mahlgemeinschaften mit den gesellschaftlich Stigmatisierten, alle Gleichnisse, die zur unbedingten Solidarität mit den Armen auffordern, oder Jesu programmatische Worte aus der Rede „vom Weltgericht“, mit ihrem berühmten Schlüsselsatz: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ (Mt 25,40)

Pasolinis "Das 1. Evangelium - Matthäus" spielt vielfach eine Rolle (imago/Everett Coll.)
Pasolinis "Das 1. Evangelium - Matthäus" spielt vielfach eine Rolle (imago/Everett Coll.)

Und wenn schon auf die Wunderüberlieferung rekurriert wird: warum dann nur mit dem christologisch zentrierten „Seewandel“, der die Göttlichkeit Jesu ins Bild setzt, und nicht mit einem der bei Pasolini so prominenten Heilungswunder, die Jesu vorbehaltlose und vorbildhafte Zuwendung zu den Notleidenden ausdrücken, zu Menschen, die wegen des Verdachts auf krankheitsursächliches Fehlverhalten aus der Gesellschaft ausgegrenzt werden.


Vermisst: Kinder und Frauen

Vermissen kann man auch die von Pasolini so akzentuierte Präsenz der Kinder, die Jesus nachfolgen und von ihm wiederholt in die Mitte gestellt wurden. Denn gerade die Kinder sind Repräsentanten der Menschen mit niedrigsten Status, die der besonderen Zuwendung bedürfen. Unterrepräsentiert sind auch die Frauen in der Jesusbewegung. Zwar meint Milo Rau im Presseheft: „Maria Magdalena ist in unserem Film eine zentrale Figur, manche der Apostel unseres ‚neuen‘ Jesus sind weiblich“, aber faktisch sind sie im Kreis der Jesusnachfolger weithin unsichtbar. Das gilt auch für Maria Magdalena. Bedenkt man, dass kurz vor Rau Garth Davis „Maria Magdalena“ (2018) in Matera gedreht hat, in dem die wichtigste Weggefährtin Jesu porträtiert wird, dann vermisst man in der Jesushandlung von „Das Neue Evangelium“ die Präsenz und vor allem auch die Stimme von Frauen im JüngerInnen-Kreis nochmals mehr. Bei Rau sind die Frauen einmal mehr die Sünderinnen, die Dienenden und die Leidenden. Viel mitzureden haben sie nicht – ganz anders als „im wirklichen Leben“ die vielen starken Frauen unter den Migranten.

In dieser Hinsicht war der südafrikanische Spielfilm „Son of Man“ (2006) schon um einiges weiter, der die Jesusgeschichte mit ausschließlich schwarzen Darstellern konsequent in die von Gewalt und Unterdrückung gezeichnete Gegenwart Afrikas übersetzt. Hier sind Frauen sehr markant im Zwölferkreis präsent. Und am Ende sind es die Frauen in der Jesusbewegung, allen voran Magdalena und die Mutter Jesu, die nach Jesu Tod der um sich greifenden Resignation widerstehen. Sie binden den geschundenen Leichnam des von den Schergen des Regimes erschlagenen Jesus an ein Kreuz und richten dieses als Fanal des Widerstands gegen das Verschwinden-Lassen der Opfer über Kapstadt auf.

„Son of Man“ von Mark Dornfeld-May (Spier Films)
„Son of Man“ von Mark Dornfeld-May (© Spier Films)

Bereits in „Son of Man“ hatte Regisseur Mark Dornford-May gemeinsam mit den Akteuren einen schwarzen Jesus als charismatischen politischen Aktivisten vorgestellt, der sich – mit deutlichen Anklängen an den Anti-Apartheid-Kämpfer Steve Biko – leidenschaftlich für die Armen, für Gerechtigkeit und Menschenwürde einsetzt. Wie Biko muss er das mit seinem Leben bezahlen: Er wird erschlagen und verscharrt. Ein Tod am Kreuz erschien Dornford-May hier völlig deplatziert. Obgleich auch er nachhaltig von Pasolinis Matthäusfilm inspiriert ist und gelegentlich auf ihn anspielt, hat er für sein „Evangelium“ konsequent eigene Bilder entwickelt.


Ein „Odd Couple“: Pasolini und Mel Gibson

Was an „Das Neue Evangelium“ am meisten irritiert, sind die sich in der Passionshandlung häufenden Referenzen an Mel Gibsons „Die Passion Christi“ (2004), etwa in der (von Pasolini übergangenen) brutalen Geißelungsszene, bei der der Maskenbildner Yvan Sagnet mit großem Eifer einen blutig zerfleischten Rücken aufschminken durfte, sei es mit der biblisch nicht bezeugten, hier aber genau nach Mel Gibson inszenierten Szene mit Veronika und dem Schweißtuch, sei es mit manchen Blicken auf die Frauen, die Jesu Qualen kaum ertragen können. Gibson scherte sich in seinem Film keinen Deut um die Verkündigung der Gottesherrschaft, geschweige denn um die soziale Energie einer „Option für die Armen“. Seinen Jesus Che Guevara zitieren zu lassen, wie es Milo Rau am Ende der Einzugssequenz mit dessen Kampfruf „Hasta la victoria siempre“ tut, wäre bei Gibson völlig undenkbar gewesen. In ihrer Auffassung der Jesusfigur sind Pasolini und Gibson absolut gegensätzlich. Wo Pasolini – und in seiner Spur eigentlich auch Milo Rau – ganz entschieden für eine politische Lesart seines öffentlichen Wirkens eintritt, ignoriert Gibson nicht nur die gesellschaftliche Sprengkraft von Jesu Verkündigung, sondern diese überhaupt zur Gänze. Gibson geht es in der Tradition der spätmittelalterlichen Passionsmystik allein um die unüberbietbare Größe des Leidens Jesu, als Garantie für die Wirksamkeit der durch sein Blut vermittelten Erlösung.

Sind Milo Raus Referenzen an Gibson damit eine weitere Hommage an die Kulturhauptstadt und den nach Pasolinis Werk zweitbekanntesten Film, der dort gedreht wurde? Oder hängen sie mit der Schauspielerin Maia Morgenstern zusammen, Gibsons „Mutter Jesu“, mit der Milo Rau auch schon bei anderen Projekten zusammengearbeitet hat und die er hier erneut als „Mater dolorosa“ besetzt? Über die Ursachen der Verbeugung vor Gibson kann man nur spekulieren. Die kleine Rolle der Mutter Jesu, mit der Pasolini noch seine eigene Mutter betraut hatte, wäre sicherlich auch mit einer talentierten Laiendarstellerin aus Matera gut besetzt gewesen. Und analog auch die Rolle des Pilatus, für die mit Marcello Fonte ebenfalls ein professioneller Schauspieler herangezogen wurde. Die Namen Morgenstern und Fonte prangen jetzt neben dem grandiosen Yvan Sagnet auf dem Plakat, obwohl sie beim Dreh kaum etwas zu tun hatten. Dass dort auch Enrique Irazoqui genannt wird, obgleich sein Auftritt als Täufer kaum zwei Minuten dauert, versteht man als Ehrbezeugung gegenüber ihm und Pasolinis „Evangelium“, mit dem er berühmt wurde.

Nicht unerwähnt bleiben soll, dass „Das Neue Evangelium“ Gibsons „Passion“ eine seiner intensivsten Szenen verdankt: das Casting eines jungen Mannes, der sich für eine Rolle bei der Geißelung bewirbt. Als er zur Probe auf einen schwarzen Stuhl einzuschlagen beginnt, heizt er sich derart mit Schmähreden gegen sein unsichtbares Opfer und mit übelsten rassistischen Beleidigungen gegen die Migranten auf, dass es einem kalt über den Rücken läuft und man sich fragt: Welcher Abgrund an Hass, welche Verachtung könnte hinter der Fassade des vor der Kamera gezeigten Wohlwollens gegenüber den Geflüchteten lauern?

Zwischen Ikonografie und politischem Aufruhr: "Das Neue Evangelium" (Armin Smailovic)
Zwischen Ikonografie und politischem Aufruhr: "Das Neue Evangelium" (© Armin Smailovic)


Abspann

Ungeachtet solcher Anfragen ist „Das Neue Evangelium“ unbestritten ein innovativer und hochaktueller Beitrag zum Genre des Jesusfilms. Auf filmästhetisch komplexe Weise gelingt eine Verschränkung der biblischen Botschaft mit einer der drängendsten Herausforderungen unserer Zeit: mit Flucht und Migration, insbesondere mit der Aufnahme und Integration von Geflüchteten. Der Film erinnert mit Nachdruck daran, dass gerade auch im Kontext der christlichen Tradition ein Handeln unter der Leitperspektive von Gerechtigkeit und Menschenwürde gefordert ist – wobei es freilich immer die Crux solcher Filme ist, dass sie meist nur diejenigen erreichen, die sich dessen ohnehin bewusst sind. Die Freilegung der Aktualität und des Anspruchs von Jesu „Option für die Armen“ hat für das Kino erstmals Pier Paolo Pasolini mit „Das 1. Evangelium – Matthäus“ geleistet. Während der italienische Filmemacher dabei um ein „kanonisches“ Christusbild bemüht war, ist Milo Raus Jesus zuvorderst „wahrer Mensch“ und politischer Aktivist. Mit seiner multiperspektivischen Verschränkung der Jesuserzählung mit dem „Aufstand der Würde“ der Migranten gelingt Rau eine kraftvolle Fortschreibung des Jesusfilm-Genres, aber auch – und dies ist noch wichtiger – des Evangeliums selbst. Wie sein Vorbild Pasolini enthüllt Milo Rau die ungebrochene Vitalität und Energie der Erinnerung an den Mann aus Nazareth und seine Botschaft, für die er mit seinem Leben eingestanden ist. Was Pasolini in eine zeitlos gültige Form gegossen hatte, konkretisiert Milo Rau zu einem eindringlichen Appell an unsere Gegenwart.

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