Am 3. Dezember
wird Jean-Luc Godard 90 Jahre alt. Godard hat das moderne Kino mitentworfen wie
kaum ein anderer Filmemacher. Gerade auch, weil er früh seine Skepsis gegenüber
der Faszination der Leinwand formulierte und diese in seinen Arbeiten
aufscheinen ließ. Seine Filme sind Ausdruck seines Leidens an der Welt,
spiegeln gleichzeitig aber auch Godards glückliche Beziehung zum Kino wider,
die beide seit über 60 Jahren miteinander führen.
Wenn wir das moderne Kino auf den Nenner bringen wollen, dann ist Jean-Luc Godard der richtige Name dafür. Er hat wie kein Anderer die zeitgenössische Siebente Kunst geprägt, indem er ihre Regeln immer wieder in Frage stellte und in der Auseinandersetzung mit Fragen unserer Zeit nach neuen Formen suchte.
Gegen die Regeln zu inszenieren, das aber geht nur, wenn man die Regeln kennt. Jean-Luc Godard hat seine kinematografischen Lehrjahre auf den harten Kinositzen in der ersten Reihe der Pariser Cinémathèque abgesessen und, bevor er selbst Filme drehte, Filmkritiken verfasst, etwa in den „Cahiers du Cinéma“. In diesen Kritiken ließ er seine Gedanken fließen wie das Travelling einer Kamera. Er ist im Kino zuhause.
„Eigentlich
habe ich immer alles anders gemacht als die Anderen, und zwar aus dem Bedürfnis
des Forschens heraus, als Suchender. Was sich verkauft, ist eben nicht das, was
das Suchen zeigt. Damit ist kein Geschäft zu machen. Man verkauft nicht das
Suchen, man verkauft nur, was man gefunden hat.“
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Das Gegenteil von dem zu machen, was andere erwarten und lustvoll zu verblüffen, dieser Devise ist JLG bis heute treu geblieben. 60 Jahre nach dem sensationellen Erfolg mit seinem Debüt „Außer Atem“ ist Godard kein etablierter Filmregisseur geworden, der seinen Stil gefunden und perfektioniert hat. Nein, er überrascht immer noch Publikum und Kritiker mit jedem neuen Film. Bis hin zu seinem jüngsten Werk „Bildbuch“.
In diesem Film holt Godard die meisten seiner Bilder aus der Filmgeschichte: Filmausschnitte, assoziativ montiert mit Youtube-Clips, Online-Videos, Mobiltelefonaufnahmen, können Gedanken freisetzen, wenn man bereit ist, sich treiben zu lassen in dieser Bildercollage mit Fragmenten aus Literatur, Kunst und Film; Vigo, Ray, Ophüls, Chaplin, Keaton, Vertov, Hugo, Brecht, Rimbaud, Goethe, Balzac…
Ein Cineastenleben
Paris – Grenoble – Rolle am Genfer See, das sind die Stationen in Godards Cineastenleben. In Paris entstanden die Meisterwerke der Nouvelle Vague, „Die Geschichte der Nana S.“, „Die Außenseiterbande“ mit Anna Karina, „Pierrot le Fou“ mit Jean-Paul Belmondo und Anna Karina, „Die Verachtung“ mit Brigitte Bardot und Michel Piccoli. 1967 dann der radikale Abschied vom Kino mit „Weekend“, ein Film „verirrt im Kosmos, gefunden auf dem Schrotthaufen“. Godard rechnete mit allem ab, was diese Welt so unerträglich macht, Klassenkampf und Ausbeutung der Dritten Welt, die Grausamkeiten der Zivilisation und das revolutionäre Chaos, das im Kannibalismus endet. Er machte sich auf den Weg einer blindwütigen Politisierung und eines radikalen Bruchs mit der Filmindustrie, nannte sich „Groupe Dziga Vertov“ und definierte seinen Anspruch, nicht politische Filme, sondern Filme politisch machen zu wollen.
1973 verließ Godard Paris (oder war es eine Flucht?) und zog nach Grenoble, wo er zusammen mit der Fotografin, Cutterin, Autorin, Regisseurin und Lebensgefährtin Anne-Marie Miéville die Videogesellschaft SONIMAGE gründete und mit pädagogischem Impetus Serien für das französische Fernsehen produzierte. Einfache Filme, doch prägt Godards Arbeit bis heute, dass er in dieser Phase gelernt hat, mit einer neuen Technik zu arbeiten. „Video hat mir geholfen, das Kino zu sehen und auf eine andere Weise zu überdenken.“
Rette sich,
wer kann – ein treffender Titel für Godards Befindlichkeit in dieser Zeit. Mit „Rette sich wer kann (das Leben)“ (1980) und Isabelle Huppert, Nathalie Baye und Jacques Dutronc suchte er den Weg zurück ins
Kino. Es geht den drei Protagonisten in diesem Film darum, ihr Leben zu ändern
in einer gewaltsamen, verworrenen Welt. Godard holte dafür Bilder aus der
Natur, den Archiven und dem Kino und Gedanken aus den Bibliotheken. Seine
Tonspur ist eine brillante Montage aus Geräuschen, Sprache, Zitaten, Musik. Von
„Rette sich wer kann“ (1980) über „Vorname Carmen“,
„Detective“, „Nouvelle Vague“ bis „Forever
Mozart“ und „Notre Musique“ (2004) dokumentierte Jean-Luc
Godard seine Anwesenheit in der Siebenten Kunst und seine Abwesenheit auf dem
Markt.
Godards Philosophie des Kinos
Zurückgekehrt in die Landschaft seiner Kindheit und Jugend, nach Rolle am Genfer See, arbeitete er gleichzeitig zehn Jahre lang, von 1988 bis 1998, an seiner „Histoire(s) du cinéma“, einer Philosophie des Kinos, die nicht die Filmgeschichte erklärt, sondern darüber nachdenkt, was die Bilder des Kinos mit uns anstellen. Er fragt nicht wie André Bazin: „Was ist Film?“, sondern: „Wie erlebe ich Film?“
Godard will sich nicht verlieren in der Faszination des Kinos, denn was hat dieses Kino, das „im Innersten zur Kosmetikindustrie gehört, zur Industrie der Masken, die ihrerseits nur eine winzige Filiale der Lügenindustrie ist“, alles angerichtet? Es hat (aus Godards Sicht) „weggesehen bei den großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts, von Auschwitz bis zu den Balkankriegen, es hat in verdunkelten Sälen das Imaginäre gefeiert und nicht verhindern können, dass sich das Reale mit echten Tränen und echtem Blut rächt.“
Godard leidet.
Das einzige, was ihn retten kann, ist der Film, der seinem Leiden entspringt.
In „Adieu au langage“ sieht man in 3D Menschen am Genfer See,
Männer und Frauen, angezogen und nackt, auf der Straße, in Wohnungen, im Sommer
und Winter, im Regen, Schnee, in der Sonne, die reden, streiten, lieben, sich
quälen und sich fragen: Um was geht es? Wo ist die (eine) Wahrheit? Zwischen
allen Bildern läuft Godards Hund durch den Film. Er ist das fröhlichste Wesen
in dieser Gesellschaft der Zweifler, der Nachdenklichen, der Kulturpessimisten,
der Verlorenen. Und der Einzige, der aus Godards Sicht kein Opfer von
Entfremdung ist.
Die Alterswerke als Form des Überlebens
Ohne Wahrheit leben in einer gewaltsamen, verworrenen Welt – um dieses Problem kreisen Godards Alterswerke; darüber Filme zu machen ist seine Form des Überlebens. Rette sich, wer kann. Bis heute stellt Godard ein Kino her, das dem Publikum nicht eine Vision aufzwingt, sondern es mit dem Realen, dem Wirklichen, mit den Bewegungen des Lebens konfrontiert, ein Kino, bei dem es mitdenken kann. „Das Kino, wie wir es kannten und geliebt haben, ist verschwunden“, weiß Godard. Doch es muss ein glückliches Cineastenleben gewesen sein, das er mit diesem Bastard Film führte. „Wenn ein Mensch“, flüstert er am Ende seiner „Histoire(s) du Cinéma“ ins Mikrophon, „wenn ein Mensch das Paradies im Traum durchquerte und eine Blume erhielte als Beweis für seinen Aufenthalt und er beim Erwachen diese Blume in seinen Händen fände, was würde er sagen?“ „Ich war dieser Mensch“, sagt Godard.