Passionen: Vom Gehen im Film

„Im Kino gibt es wenig Schöneres als einen gehenden Menschen“

Veröffentlicht am
13. März 2018
Diskussion

„Du hast einen Job. Einen guten. Einen richtig guten. Ich kann das sehen. Daran, wie Du läufst.“ Als Yella in dem gleichnamigen Film von Christian Petzold nach einem erfolgreichen Vorstellungsgespräch wieder durch die Straßen der ostdeutschen Provinz läuft, glaubt ihr Ex-Mann, die Veränderung sofort erkannt zu haben: ein erfolgreicher Gang. Das Drehbuch von „Yella“ (2007) spricht offen aus, was im Kino üblicherweise mehr oder weniger subtil (meist eher weniger) an psychologischem und sozioökonomischem Subtext in das Gehen investiert wird: Es erteilt Auskunft über gesellschaftliche Zugehörigkeit, mentale Verfasstheit, Laune etc. In Anlehnung an den Satz von Werner Herzog, „Das Wissen kommt von den Sohlen“ (so schreibt er in seinem Buch „Vom Gehen im Eis“) könnte man sagen: Das Wissen kommt vor den Sohlen.

Tatsächlich ist das Gehen von Beginn der Kinematografie an mit der Arbeit verbunden. Einer der ersten Filme der Filmgeschichte zeigt Arbeiterinnen und Arbeiter beim Verlassen einer Fabrik („Arbeiter verlassen die Lumière-Werke“, 1895). In der Masse gehen sie durch das Fabriktor, bevor sie zu beiden Seiten aus dem Bild verschwinden. In seiner motivgeschichtlichen Bildlektüre „Arbeiter verlassen die Fabrik“ (1995) analysiert Harun Farocki, dass in der etwa einminütigen Originalaufnahme alle zügig fortstreben, „so, als zöge sie etwas fort“.

Auch wenn Fabrik und Arbeiterschaft, als Klasse oder als Kollektiv, dem Kino abhandengekommen sind, ist das Gehen noch immer das stärkste Ausdrucksmedium der arbeitenden Filmfigur. In einem bestimmten Segment des Autorenkinos, das man grob vereinfacht den sozialrealistischen „Prekariatsfilm“ nennen könnte, hat sich nicht zuletzt im Fahrwasser des Films „Rosetta“ von Jean-Pierre und Luc Dardenne eine spezifische Form des Gehens mit einer spezifischen Form der Bildästhetik zu einem fragwürdigen Kausalzusammenhang verdichtet: eine aufgescheuchte, wackelige Handkamera folgt einer aufgescheuchten Jobsucherin, schmeißt sich an sie heran, heftet sich in ihren Rücken. Mit der Filmkunst der Dardennes hat das freilich nicht zu tun. Der Gang als ein hastiges, hypergestresstes Davon- oder Irgendwohin-Eilen. Vielleicht ist auch das eine Spätfolge des Fabrikfilms; um nochmal mit Farocki zu sprechen: „Arbeiter rennen, als hätten sie schon zu viel Zeit verloren ... sie laufen, als wüssten sie, wo es besser ist“.

Mich ermüdet dieses thesenhafte Gehen, gerade auch in der Verbindung mit einer ausgestellt vitalistischen Handkamera. Dabei gibt es im Kino wenig Schöneres als einen gehenden Menschen. Gewiss gibt es auch tolle Bewegungen, die im Dienst eines Plots stehen, etwa das Gehen als Erkunden eines unbekannten Raums, das mit Suspense aufgeladene Gehen im Film noir oder bei Hitchcock, das breitbeinige Gehen und Schlurfen der Cowboys im Western, die extrem verdichteten „walk and talk“-Routinen in Kriminalfilmen und Komödien, überhaupt: das Durchstreifen von Landschaften, Großstädten und Käffern, auf dem Weg von A nach B.

Doch ein Zuviel an dramaturgischer Funktion versaut den Gang. Im idealen Fall löst sich das Gehen aus dem Erzählrahmen und verselbständigt sich zur reinen Bewegung. Ein wunderbares Beispiel dafür findet sich in „Nocturama“ (2017) von Bertrand Bonello. In Anlehnung an Alan Clarks minimalistisches Filmexperiment „Elephant“ (1989), das mit einer Steadycam-Kamera etwa 40 Minuten lang einer Reihe von Killern auf ihren Wegen zu den Opfern folgt, beginnt „Nocturama“ als eine Choreografie von Bewegungen.


Man sieht junge Menschen, Teenager noch, auf ihren Wegen durch den Stadtraum von Paris, zu Fuß oder mit der Bahn. Sie gehen vereinzelt, zu zweit, zu dritt; auf kurzzeitige Formationen folgt die wortlose Zerstreuung. Ihre Wege führen durch die Flure der Métro, über Rolltreppen, durch Ein- und Ausgänge; zwischendurch verschwinden Mobiltelefone in Mülleimern, werden neue Handys aus Jackentaschen hervorgeholt, Nachrichten verschickt, Fotos gemacht. Ihre Blicke richten sich auf Uhren und U-Bahndisplays; irgendwann geraten auch verdächtige Pakete in die brillant orchestrierte Handlungskette.

Auch wenn spätestens dann klar ist, dass die Jugendlichen einen Anschlag planen, überwiegt doch der reine Drive. Das Gehen ist aufgeladen und gleichzeitig entleert, fast abstrakt und hinreißend schön. Ich könnte mir dieses Ballett stundenlang ansehen.


Fotos:

"Yella" (oben), © Piffl Medien

"Nocturama" (unten), © Real Fiction

Kommentar verfassen

Kommentieren