Passionen: Der wunderbare Waschbär

Veröffentlicht am
31. Mai 2018
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Ich hatte nie eine besondere Beziehung zu Waschbären. Das änderte sich in „Louisiana Story“ von Robert Flaherty. Ganz einfach, weil es im Kino diesen schmalen Grat geben kann zwischen überwältigender Illusion und absoluter Wirklichkeit. Ein Spezialeffekt reißt mich nicht vom Sitz, weil ich weiß, dass er von einigen Experten hinter Bildschirmen hergestellt wurde. Ich frage mich dann nie, wie das gemacht wurde. Auch die unzählbaren Videos im Internet, auf denen man besonders spektakuläre, süße, wilde oder eklige Zufälle sieht, stellen nicht die Frage nach Wahrheit oder Illusion. Stattdessen behaupten sie einfach einen Ist-Zustand. Auch hier stelle ich mir nicht die Frage, wie das gemacht wurde.

Es gibt im Kino aber immer wieder Augenblicke, Szenen oder ganze Filme, in denen weder das eine noch das andere, aber beides zugleich gilt. Offensichtlich eine Illusion, erzeugen sie eine unfassbare Wirklichkeit. Ich frage mich dann vor allem deshalb, wie das gemacht wurde, weil ich weiß, dass ich nie ganz hinter das Geheimnis werde blicken können. Es ist kein Zaubertrick, es ist kein Zufall, es ist eine besondere Poesie der Ordnung in Raum und Zeit. Hier der Versuch, eine solche Szene zu beschreiben, um sie zumindest in Teilen zu fassen:

Sich mit einem kleinen Boot vorsichtig durchs Dickicht tastend, leicht geduckt, lauernd unter den ins Wasser ragenden Pflanzen hindurch. Im Boot ein Junge und sein Waschbär. Sie blicken um sich. Der Junge lässt den Waschbär mit einer Schnur ans Boot gebunden zurück und macht sich auf in den Wald. Der Waschbär ist beunruhigt, versucht sich zu lösen, quietscht dabei zerbrechlich. Während er sich an einem Ast hängend vorwärts bewegt, flüstert der Junge beruhigend. Nervöse Bewegungen des Waschbären, er versucht sich zu befreien, geht hin und her auf dem Boot und reicht mit seinen Pfoten ins sumpfige Nass.



Der Junge erblickt in der Zwischenzeit einen Alligator. Er huscht groß und mächtig durchs Dickicht. Die Musik wird bedrohlicher. Das riesige Tier gleitet ins Wasser; aus dem schwerfälligen Gang wird in einem Augenblick pure Eleganz. Darauf hat der Junge gewartet. Er schleicht sich an etwas auf dem Boden heran, es ist die Stelle, an der die Eier des Alligators liegen. Der Waschbär schafft es inzwischen unter großer Mühe durch seine festhängenden Schwimmbewegungen, das Boot zu bewegen. Ein Wasservogel beobachtet das Treiben und sieht auch den Alligator. Nun ist es schneller unterwegs. Es schleicht sich an einen anderen Vogel heran. Wer ist hier bedroht? Der Junge, der Waschbär, der Vogel?

Die Parallelmontagen schreiten unerbittlich voran. Der Alligator ist jetzt ganz nah am Vogel, wartet auf seine Chance. Der Waschbär erblickt das, ich bin mir ganz sicher, dass er das sieht, ich glaube Flaherty jeden Schnitt. Er schaut lange und wirkt wie starr, ob des grausamen Schauspiels. Inzwischen kriecht ein anderer Alligator wieder an Land, es wirkt ebenfalls angespannt, lauernd. Einer seiner Nachkömmlinge schlüpft aus einem Ei, beinahe wähnt man sich aus der chronologischen Abfolge der Sequenz in einen surrealistischen Bildersturm hineingeworfen.

Schnell wird aber klar, dass der Junge den Baby-Alligator in Händen hält und die Mutter sich an ihn heranschleicht. Die Musik verdichtet sich zu einem Crescendo, der Alligator schreit wie ein tobender Sturm, der Junge schreckt auf und rennt davon. Beide sind in derselben Einstellung zu sehen, um dem Wahnsinn auch noch seine realistische Erdung zu geben. Doch was ist da los? Der Waschbär hat sich befreit, strolcht verspielt durchs Uferdickicht und isst. Ein Alligator ist nicht fern. Der Junge kehrt zurück zum Boot, sein Waschbär ist verschwunden. Flaherty zeigt den Bären schwimmend im gefährlichen Gewässer. Es wirkt so, als wolle er die herumstehenden Wasservögel warnen. Er hat einen Auftrag, der Alligator auch.

Auf einmal scheint es so, als würde der Alligator den Waschbären verfolgen. Eine Nahaufnahme des im Fluss strampelnden Raubtiers, dessen Augen sich gerade so über Wasser halten, leitet das Drama zu seinem Höhepunkt. Der Waschbär versucht sich zu einem der Vögel auf eine kleine Insel aus Gestrüpp zu retten. Dieser pickt den Bär aber mit seinem Schnabel, sodass der wieder zurück in die Gefahr springen muss. Der Alligator kommt näher und näher. Noch einmal die besorgten Augen im Wasser. Ausgang offen.

Ich will nie wissen, wie Robert Flaherty das gemacht hat!


"Louisiana Story" ist in sehr mäßiger Bildqualität auf youtube zu sehen. Aus den USA ist der Film als DVD importierbar (Anbieter: Alpha Home Entertainment)



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